Kurzmeinung: Ebenso unterhaltsame wie abgründige Literaturbetriebs- und Social Media-Satire. Ganz großes Kino!
Yellowface ist in meiner Internet-Bubble in aller Munde und wird in den höchsten Tönen gelobt, deshalb hatte ich schon die Befürchtung, dass meine Erwartungen zu hoch sind und ich enttäuscht werde. Aber das war nicht der Fall: Ich finde es großartig! Der Roman behandelt Themen wie die Schnelllebigkeit und Unbarmherzigkeit der US-amerikanischen Verlagswelt, Diversität, kulturelle Aneignung und Rassismus in der Literaturszene, Social Media-Dynamiken und die Frage, wem es eigentlich zusteht, welche Geschichte zu erzählen. Das Ganze wirkt aber keinesfalls überladen, sondern wird auf eine mitreißende Art und Weise erzählt. Ich fühle mich, als würde ich einer unsympathischen Person beim Tratschen über den neuesten Industry-Gossip zuhören oder mit einer Popcorn-Tüte vor einem juicy Twitter-Thread über das neue große Gerücht des Monats sitzen. Es ist eines dieser Bücher, die ich gar nicht mehr aus der Hand legen konnte. Und ich kann nur empfehlen, es wenn möglich im englischen Original zu lesen – obwohl ich seit einiger Zeit nichts mehr auf Englisch gelesen habe, bin ich sehr schnell reingekommen.
Es beginnt mit June Hayward, einer erfolglosen Schriftstellerin, die im Schatten ihrer erfolgreichen Freundin Athena Liu steht. Als Athena bei einem Unfall stirbt, nimmt June den ersten Entwurf von Athenas aktuellem Roman an sich, eine Geschichte über chinesische Zwangsarbeiter im Ersten Weltkrieg. Sie poliert das Manuskript auf, gibt es als ihr eigenes aus – und sieht einem überwältigenden literarischen Erfolg entgegen.
June wird nicht als platte Antagonistin dargestellt, die zielgerichtet etwas Böses will; vielmehr findet sie immer wieder Rechtfertigungen für ihr Verhalten: Sie möchte doch nur Athenas letzten Roman an die Öffentlichkeit bringen, und es wäre doch furchtbar peinlich, wenn die Menschen nur die unbearbeitete Rohfassung davon lesen würden. Und June hat in die Überarbeitung so viel Zeit und Recherche reingesteckt, warum sollte sie keine Anerkennung dafür bekommen? Und Athena ist doch sowieso tot, was hätte sie also von ihrem Erfolg? Warum sollte June nicht auch einmal den Erfolg erleben dürfen, der ihr so lange verwehrt geblieben ist?
June hat viele eigene Probleme: Ihr Debütroman ist gefloppt, sie ist psychisch nicht ganz auf der Höhe und sie hat – im Gegensatz zu Athena – nie erfahren, wie es sich anfühlt, verständnisvolle Eltern zu haben oder im Geld zu schwimmen. Wer kann es ihr also verübeln, dass sie auch mal im Rampenlicht stehen möchte? Und was schadet es schon, wenn sie dabei ein bisschen manipulativ vorgeht?
Es ist faszinierend, wie sie ein falsches Bild von sich selbst zeichnet, ohne zu lügen: Es ist ja nicht ihre Schuld, dass das Publikum ihren Namen, Juniper Song, als chinesisch liest, obwohl „Song“ in Wirklichkeit nur ihr zweiter Vorname ist; es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie auf ihrem Autorinnen-Foto racially ambiguous aussieht, das Licht lässt ihre Haut eben ein bisschen dunkler wirken. Immer wieder kommt es zu Begegnungen, bei denen Menschen (vor allem aus der Asian American Community) irritiert darüber sind, dass sie gar nicht chinesisch ist, sondern weiß. Sobald sie damit konfrontiert wird, gibt sie das auch zu, aber wenn sie nicht gefragt wird, sieht sie keinen Grund, das klarzustellen.
Aus ihrer privilegierten Position speisen sich auch ihre Minderwertigkeitskomplexe: June ist der Meinung, dass in der heutigen Zeit niemand mehr Geschichten von weißen, heterosexuellen Frauen aus Philadelphia lesen will, und dass „Diversität“ der Schlüssel zum Erfolg sei. (Hier ist es auch spannend, den Unterschied zum deutschsprachigen Literaturbetrieb zu sehen: Eine solche Aussage würde weißen, heterosexuellen deutschen Autorinnen wohl nicht über die Lippen kommen, dafür sind wir hier einfach noch nicht weit genug.) Dabei übersieht sie vollkommen die Steine, die nicht-weißen Autor*innen und ihren Geschichten in den Weg gelegt werden – und selbst, als ihr am Ende sehr plakativ ins Gesicht gesagt wird, wie genau Verlage nicht-weiße Autor*innen als Token ausnutzen und nur bestimmte Geschichten von ihnen hören wollen, scheint June daraus überhaupt nichts zu lernen.
Dass Verlage sich gern mit Diversität schmücken, aber dafür bitte keine alten Muster herausfordern wollen, zeigt sich in Yellowface sehr deutlich. Zu Beginn wird Athenas Manuskript sowohl von June selbst als auch von ihrer Lektorin ordentlich durch die white gaze-Mangel gedreht: Chinesische Namen und Verwandtschaftsbezeichnungen werden ausgetauscht und vereinfacht und ein großer Teil des Romans wird gestrichen, um die weißen, US-amerikanischen Lesenden nicht zu überfordern. Auch inhaltlich wird die Geschichte weichgespült: Eine schockierende Szene, die der historischen Wahrheit entspricht, wird gestrichen, weil die Lektorin findet, dass sie zu unrealistisch und überzogen sei; die britischen Soldaten werden als weniger rassistisch dargestellt und es wird eine Liebesgeschichte zwischen einer weißen Frau und einem chinesischen Zwangsarbeiter hinzugefügt. Besonders bitter: Eine Assistentin des Verlags, die einzige Asian American in diesem Team, übt Kritik und bittet June eindringlich darum, einen chinesischen Sensitivity Reader zu beauftragen. June ist genervt von ihr und erwirkt am Ende sogar, dass sie gefeuert wird.
Generell fällt June durch rassistische Mikroaggressionen auf, die ihr selbst scheinbar gar nicht bewusst sind. Sie stellt sich als Heldin und Verbündete der Asian American Community dar, aber sie betont immer wieder, wie abstoßend sie chinesisches Essen findet; sie benutzt häufig das Wort „exotisch“ und stellt Generalisierungen über asiatische Menschen auf. Einmal fährt sie sogar nach Chinatown, um sich Inspiration für ihren neuen Roman zu holen, und versucht, sich mit dem Mitarbeiter eines Restaurants anzufreunden, um von seinem ‚Insider-Wissen‘ über die chinesische Community dort zu profitieren. Trotz der Stereotype und Abwertungen, die sie immer wieder zum Ausdruck bringt, ist sie bis zum Ende der Meinung, dass sie als weiße Frau ja das eigentliche Opfer ist, und sieht gar nicht ein, dass sie irgendetwas falsch macht. Und das, obwohl sie mit mehr als genug kritischen Stimmen konfrontiert wird. Aber denen unterstellt sie nur Neid, Hass oder Frauenfeindlichkeit.
Diese kritischen Stimmen tauchen vor allem auf Social Media auf, und ganz besonders auf Twitter. Ein bisschen schäme ich mich für die diebische Freude, die ich beim Lesen dieser Online-Auseinandersetzungen hatte, denn ich bin chronically online genug, um die Dynamiken zu verstehen, weil ich sie selbst oft genug beobachtet habe. Im Jahr 2024 macht es mich ein wenig nostalgisch, denn ich habe das Gefühl, mit diesem Buch auch ein Stück Mediengeschichte in der Hand zu halten. Wer diskutiert heute schon noch irgendwas Relevantes auf Twitter? (Nein, ich werde es definitiv nicht X nennen.)
Am spannendsten fand ich die immer wieder aufgeworfene Frage danach, wem es eigentlich zusteht, welche Geschichte zu erzählen. Ich habe das Gefühl, viele Menschen nehmen üblicherweise aus entsprechenden Diskussionen mit, dass sie nicht über eine andere Lebensrealität als ihre eigene (und vor allem: als weiße Menschen nicht über nicht-weiße Menschen) schreiben dürfen. Dabei geht es gar nicht um Verbote, sondern um Reflexion. Yellowface bietet in dieser Hinsicht viele Denkanstöße, drängt aber keine Lösung auf, sondern zeigt, dass die Fragestellung komplex ist. Steht es June zu, sich durch die Leidensgeschichte von chinesischen Zwangsarbeitern zu bereichern? Steht es nicht eher deren Nachfahren zu, ihre Geschichte zu erzählen? Oder ist es nicht nur wichtig, dass sie überhaupt erzählt wird, egal von wem? Steht es Athena zu, die gar nicht in China, sondern in den USA in der Diaspora lebt? Steht es Athena zu, über den Korea-Krieg zu schreiben, obwohl sie keine koreanischen Wurzeln hat? Steht es Athena zu, aus einem intimen und verstörenden Erlebnis, von dem June ihr zu Uni-Zeiten einmal im Vertrauen erzählt hat, ohne ihre Zustimmung eine Kurzgeschichte zu machen? Interessant finde ich auch, dass ein Kritiker an einer Stelle über Junes Roman meint, so etwas könne nur eine weiße Person schreiben – dabei stammt ja die Rohfassung des Manuskripts von Athena, die nicht weiß ist.
Schlussendlich geht es in Yellowface auch um generelle Dynamiken des Literaturbetriebs: Die Schnelllebigkeit; der Druck, sich selbst als schreibende Person relevant zu halten und nach dem ersten Bestseller möglichst schnell den zweiten rauszuhauen; im Rampenlicht stehen, Kritik aushalten und dann darauf warten, dass man unvermeidbar fallen gelassen wird und sich alle – Fans wie Kritiker*innen – von der eigenen Person abwenden und sich mit dem nächsten großen Ding beschäftigen. Bemerkenswert fand ich hier die Missgunst und den Neid, der zwischen Autor*innen herrscht (allen voran ausgedrückt durch June). Ich weiß nicht, ob das überspitzt dargestellt oder im US-amerikanischen Raum tatsächlich Gang und Gäbe ist. Auf jeden Fall hat es mich auf eine morbide Art und Weise unterhalten.
Ich weiß nicht, ob man diesen Roman in fünf oder zehn Jahren noch verstehen wird. Er enthält viele aktuelle Anspielungen und Bezüge, die schon heute dated wirken (Stichwort Twitter). Oder ob man ihn überhaupt verstehen kann, wenn man nicht zumindest ein bisschen chronically online in der Buch-Welt unterwegs ist. Ich hatte jedenfalls viel Spaß beim Lesen und bin dankbar für die Einblicke in die Verlagswelt und die Art, wie hier viele aktuell relevante Diskussionen behandelt und literarisch eingefangen werden.
5/5 Bestsellern