Kurzmeinung: Unglaublich atmosphärischer und spannend erzählter Coming of Age/Mystery-Roman – mit einer enttäuschenden Auflösung.
Margot Nielsen ist 17 und blickt einem weiteren trostlosen Kleinstadtsommer entgegen, in dem sie sich jeden Tag mit ihrer unberechenbar launischen Mutter streitet. Sie hätte gern eine richtige Familie, die sie liebt, aber so lange sie denken kann sind es immer nur ihre Mutter und sie gegen den Rest der Welt gewesen, und Fragen nach ihrer Verwandtschaft sind ein Tabu. Bis Margot in einem alten Buch einen Hinweis auf ihre Großmutter findet. Also macht sie sich auf den Weg zu ihr – und merkt schnell, dass auf ihrer Farm merkwürdige Dinge vor sich gehen …
Ich bin nicht der größte Coming of Age-Fan und wäre vermutlich gar nicht auf dieses Buch gekommen, wenn es mir nicht persönlich als Horror-Roman empfohlen worden wäre. Aber ich bin sehr dankbar dafür, denn die ersten 90 Prozent davon sind wirklich unglaublich gut! Mithilfe einer wunderschönen Sprache entwickelt das Buch von der ersten Seite an einen Sog, dem ich mich nicht entziehen kann: Ein heißer Sommertag; eine Kerze, die immer brennen muss; die ambivalente Dynamik zwischen der Protagonistin und einer schwer durchschaubaren Mutterfigur. Zwischen Maisfeldern und flirrenden Highways entfaltet sich langsam ein atmosphärisches Grauen, das oft in beunruhigenden Details liegt: Eine Tote im Feuer, die Margot zum Verwechseln ähnlich sieht; ein Maisfeld, das seltsam deformierte Früchte trägt; eine skeptische Dorfgemeinschaft, die Margot sofort allerlei Dinge unterstellt, nur weil sie sehr offensichtlich zur Nielsen-Familie gehört. Mehr und mehr nimmt Margot die Rolle einer Detektivin ein, die das Geheimnis um diesen Ort und ihre Familie entschlüsseln will, und es ist unglaublich spannend zu lesen, wie sie immer mehr Hinweise findet, die nur noch weitere Fragen aufwerfen. Zwar ist das Erzähltempo recht langsam, aber ich habe mich nie gelangweilt, sondern es richtig genossen, tief in diesen Ort einzutauchen.
Hilfe bei ihren Nachforschungen bekommt Margot von Tess, Tochter der örtlichen Großgrundbesitzer-Familie, deren Leben sich so sehr von Margots eigenem unterscheidet und für die das alles nur ein großer Spaß zu sein scheint. Ich mag die Dynamik zwischen den Beiden sehr, besonders das ambivalente Verhältnis, das Margot zu ihr hat: Einerseits ist da so etwas wie Neid und Frustration darüber, dass Tess sich der Ernsthaftigkeit der Lage und ihrer eigenen privilegierten Situation (liebende Familie, viel Geld) nicht bewusst zu sein scheint, andererseits ist sie dankbar dafür, jemanden an ihrer Seite zu haben. Und sie denkt auch darüber nach, ob sie sich romantisch zu Tess hingezogen fühlt. Dass Margot lesbisch ist, wird zwar erwähnt, aber es gibt keine dramatischen Coming Outs, kein innerliches Hadern, sondern ist einfach nur eine von vielen Eigenschaften der Hauptfigur, casual queerness eben. Das fand ich sehr erfrischend, gerade für ein Coming of Age-Buch – immerhin bin ich hauptsächlich hier für den Horror. Und das Hauptaugenmerk der zwischenmenschlichen Beziehungen liegt auf Margots Familienverhältnissen.
Ich erwähnte oben bereits, dass ich nur die ersten 90 Prozent des Buches großartig fand. Bis dahin wird sehr gekonnt eine sich langsam steigernde Spannung aufgebaut und Puzzleteile zur Erklärung der unheimlichen Phänomene rund um die Farm präsentiert, die aber noch keine konkreten Schlüsse zulassen. Und dann kommt die wirkliche Auflösung.
Ab hier: Spoiler für das Ende!
Im Zentrum des Mysteriums steht das im Feuer gestorbene Mädchen, das Margot so ähnlich sieht. Ich hatte viel Spaß daran, beim Lesen mitzurätseln, was wohl dahinter und hinter all den anderen Auffälligkeiten rund um die Farm stecken könnte. War die Tote eine zeitreisende Verwandte von Margot? Ist sie aus einer Spiegeldimension geflohen? Ist es eine Doppelgängerin? Liegt ein Fluch auf der Farm, hat es etwas mit Hexerei zu tun? Ich war wirklich gespannt darauf, welche Auflösung die Autorin wählen würde, denn es gab so viele Möglichkeiten, die ich alle toll gefunden hätte.
Leider hat sie sich für eine vermeintlich wissenschaftliche Erklärung entschieden. Und die finde ich am unglaubwürdigsten von allen. Die Quintessenz: Vor Jahren, als die Maisfelder kaum Früchte trugen, hat Margots Großmutter eine verbotene Chemikalie eingesetzt, um den Mais wieder zum Wachsen zu bringen. Und die hat irgendwie in ihrem Körper dafür gesorgt, dass ihre DNA dupliziert wurde, und dadurch hat sie – ohne Befruchtung – ein Klon-Baby zur Welt gebracht. Und aus der Erde sind dann weitere Klone gewachsen. Ihre Tochter, Margots Mutter, hat später auf die gleiche Weise ein Klon-Baby zur Welt gebracht: Margot. So erklärt sich auch die starke Ähnlichkeit der drei Frauen und die Abwesenheit eines Vaters: Es gibt keinen. Das war alles die Chemikalie. Weil die eben DNA verdoppelt.
Als ich diese Auflösung gelesen habe, dachte ich mir nur: Och nö, echt jetzt?
Mein 10.-Klasse-Biologie-Wissen ist nicht mehr taufrisch, aber dass das völliger Quatsch ist, war mir gleich klar. DNA-Replikation passiert im menschlichen Körper ständig, während sich Zellen erneuern. Sie führt nicht dazu, dass man plötzlich schwanger ist und Klone gebärt. Außerdem erscheint mir dieses Konzept extrem undurchdacht: Wie gering ist denn bitte die Chance, dass Margots Großmutter die einzige Landwirtin gewesen ist, die diese seit langem verbotene Chemikalie verwendet? Wenn sie so Erfolg versprechend ist, warum haben andere sie nicht auch verwendet? Warum sind die Effekte nicht bekannter? Warum gab es gerade bei ihr diese spezifischen Nebenwirkungen? Und warum sind diese nach Jahren plötzlich auf Tess übergesprungen? Warum nicht früher, warum nicht auf andere Menschen in diesem Ort? Warum ist die Chemikalie nicht ins Grundwasser gelangt? Warum glaubt Margot am Ende, dass der ganze Spuk vorbei ist, nur weil ihre Großmutter tot ist?
Ich glaube, das ist der Fakt, der mich am meisten stört: Es gibt eine vermeintlich wissenschaftliche Erklärung, das Phänomen wird am Ende aber doch wie ein magischer Fluch behandelt. Margot war mit ihrer Großmutter im Maisfeld, sie hat mutierten Mais geerntet und gegessen, sie hat in der Erde gegraben, die vermutlich noch von der Chemikalie verseucht war – und ist am Ende aber der Meinung, dass ihr jetzt nichts mehr passieren kann, weil ihre Großmutter, die all das überhaupt erst angefangen hat, jetzt nicht mehr lebt. Dies ist nicht, wie Chemikalien funktionieren, Margot!
Das alles finde ich unglaublich schade, denn ich kann mich durchaus für Ecological Horror begeistern. Aprikosen, in denen statt Kernen menschliche Zähne stecken? Mädchen, die in der Erde wachsen, immer und immer wieder neu? Chemikalien, die eigentlich für die Labor-Anwendung entwickelt wurden, aber auf Makroebene im Menschen auf eine grauenhaft ähnliche Weise wirken? Ja, bitte! Aber bitte nicht so.
Ich habe das Gefühl, die Autorin wollte hauptsächlich eine Mystery-Familiengeschichte erzählen und Spannung aufbauen, konnte sich dann aber nicht für eine Auflösung entscheiden und hat sich dann etwas vermeintlich Unerwartetes ausgesucht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber an dieser Stelle hätte ich eine übernatürliche Auflösung viel passender gefunden. Das wäre zumindest besser gewesen, als sich pseudo-wissenschaftlichen Unsinn zusammenzubasteln.
Ich erkenne durchaus auch den Ansatz, das Thema des intergenerationalen Traumas, das sich durch das gesamte Buch zieht, durch diese DNA-Klon-Sache auch auf einer körperlichen Ebene sichtbar zu machen. Da diese Sache aber keinen Sinn ergibt, funktioniert das für mich leider nicht. Außerdem zeigt sich die Schwäche dessen, wenn man das Szenario mal weiterdenkt: Margot ist der Meinung, sie hätte den Kreislauf dieses Traumas gebrochen, indem sie den Machenschaften ihrer Großmutter ein Ende gesetzt und sie getötet hat. Aber wer sagt denn, dass es wirklich vorbei ist? Die Chemikalie ist im Boden, sehr wahrscheinlich auch in Margots Körper, also vermutlich hat sie gar nichts gebrochen. Ist das ein Kommentar darüber, dass der Kreislauf unmöglich durchbrochen werden kann, auch wenn es zunächst so scheint? Ich weiß nicht, ob das so beabsichtigt sein kann.
Wie gesagt, alles sehr schade, dabei hatte ich während des Lesens geglaubt, dass dieses Buch mein Sommer-Highlight werden könnte. Na ja, immerhin bleibt mir eine spannend erzählte Geschichte mit interessanten Figuren und außergewöhnlichen Dynamiken.
4/5 mutierten Maiskolben