Kurzmeinung: Überwiegend sehr kurze Slice of Life-Geschichten, die ganz nett für zwischendurch sind, mir aber nicht im Gedächtnis bleiben werden.
Ich hatte mich sehr auf die 2. Ausgabe der Anthologie-Trilogie gefreut, weil mir die erste gut gefallen hat und ich erwartet habe, hier wieder rare Kurzgeschichten-Perlen zu finden. Leider kann ich schon an dieser Stelle sagen, dass Nr. 2 für mich nicht an Nr. 1 heranreicht. Dabei hat es so vielversprechend angefangen: Wie auch bei der 1. Ausgabe hat die Herausgeberin eine Ausschreibung veranstaltet, bei der viele Geschichten für die Themen Risse, Rückkehr und Reparatur eingereicht worden sind. Die Herausgeberin hat jedoch nur sehr wenige davon angenommen und die Ausschreibung verlängert. Auch von den danach eingereichten Geschichten hat sie nur so wenige ausgewählt, dass sie sich dazu entschlossen hat, die Anthologie-Trilogie nicht mehr als drei separate Bücher, sondern in einem Buch zu veröffentlichen. Bei einer so geringen Annahme-Rate bin ich hellhörig geworden. In diesem Buch konnten nur die absoluten Perlen gelandet sein.
Leider war das ein Trugschluss. Ich kann zwar sagen, dass ich keine Geschichte in diesem Buch schlecht fand. Aber vom Hocker gehauen oder nachhaltig beeindruckt hat mich auch keine. Die Texte sind häufig sehr kurz, es wird darin viel nachgedacht und wenig gehandelt. Viel Slice of Life also, was mich gewundert hat, denn zu den vorgegebenen Themen hätten sich so viele verschiedene Geschichten in den unterschiedlichsten Genres erzählen lassen. So verschwimmen die Texte für mich rückblickend zu einer Masse, obwohl sie einzeln betrachtet durchaus ihren Reiz haben können. Hintereinander gelesen haben sie jedoch irgendwann angefangen, mich zu langweilen. Es sind meist nur Ausschnitte und Stimmungsbilder, die ich als „ganz nett für zwischendurch“ empfinde. Aber damit kommt es mir am Ende leider so vor, als hätte ich eine Anthologie voller Lückenfüller-Geschichten gelesen.
Es folgen meine Eindrücke zu den einzelnen Geschichten, die ich ursprünglich für die Leserunde auf Lovelybooks geschrieben habe:
Hier ist einmal Leben gewesen von Julia Heuer liefert einen sehr atmosphärischen Einstieg. Ich mag die sprachlichen Bilder rund um die sterbende Welt. Gerade bei sehr kurzen Texten muss für mich aber jedes Wort sitzen – „doll“ (in: „wenn du es nur doll genug versuchen würdest“) haut mich hier kurz raus, das ist für mich Kindersprache und passt nicht zum poetischen Rest des Textes. Die Formulierung „Risse in der Erde wie die Stücke deiner Seele“ ist auch etwas zu kitschig für meinen Geschmack.
Der Text scheint eine Momentaufnahme aus einem apokalyptischen Szenario zu sein und ich finde es gut, dass hier nicht zu Erklärungen angesetzt wird, wie es dazu gekommen ist, sondern dieser kleine Moment einfach für sich stehen kann. Ich frage mich aber schon, wie die Hauptfigur noch klar denken und aufrecht stehen kann, wenn sie angeblich „schon lange kein Wasser mehr gesehen“ hat. Die Effekte von Dehydrierung treten ja recht schnell ein.
Menschlich von Anne Danck spielt in einem Krankenhaus: Dort sucht ein Vampir nachts das Gespräch mit einer todkranken Frau, nachdem er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst geworden ist und gern erfahren möchte, wie ein Mensch mit der Gewissheit des Todes umgeht. Spannende Idee! Die Geschichte besteht zum Großteil aus einem Dialog zwischen den beiden, den ich auch ganz gelungen finde. Vor allem die Stelle „So lange sind Sie schon krank?“ „Nein, aber schon so lange sterblich“ fand ich sehr stark. Generell trägt der Text eine gelungene Melancholie und Schwere in sich.
Mein Problem mit Dialog-Texten zu bedeutsamen/schweren Themen ist häufig, dass die Figuren sich gegenseitig nur tiefschürfende Weisheiten vorbeten – auch hier scheint die Protagonistin auf alles eine kluge und eloquente Antwort zu haben. Ihre Abgeklärtheit kann ich aber immerhin mit ihrem hohen Alter und ihrem Gesundheitszustand entschuldigen, und es gibt auch Einschübe im Dialog, die ihn wieder authentisch wirken lassen.
Was ich mir noch gewünscht hätte, ist mehr Tiefe bei den Figuren. Die Protagonistin ist nur die leukämiekranke Frau, die bald sterben wird und Schmerzen hat; der Vampir ist nur ein Vampir, der sich gerade seiner eigenen Sterblichkeit bewusst geworden ist. Ihr einziger Existenzzweck scheint es zu sein, diese Dialogszene zu halten. Hätte zumindest die Protagonistin mehr Persönlichkeit, hätte ich den Dialog auf noch tiefere Weise mitfühlen können.
Was mich außerdem neugierig gemacht hat, ist das Wesen der Vampire selbst. Diese Neugier überschattet sogar fast die eigentliche Szene: Vampire sind in dieser Geschichte wohl ein selbstverständlicher Teil der Welt? Jedenfalls redet die Protagonistin ganz ungerührt über ihre frühere Begegnung mit einem Vampir, und sie sagt ihrem Besucher am Ende, er solle doch bitte die Eltern fragen, bevor er Kinder beißt. Das hat mich ein wenig aus dem Konzept gebracht, weil es in dieser ruhigen Szenerie ziemlich absurd wirkt.
In Sind Sie neu? von Marcus Jensen geht es um einen alkoholabhängigen älteren Mann namens Rudi, der der Person, in deren Laden er jeden Tag Schnaps kauft, eine Anekdote aus besseren Zeiten erzählt. Ich finde den Text in seiner Kürze sehr lebendig geschrieben, aber vom Hocker gehauen hat er mich nicht, dafür habe ich schon zu oft ähnliche Geschichten gelesen.
Auch interessant: Bei dem Titel „Sind Sie neu?“ hatte ich irgendwie erwartet, dass mit dieser Aussage auch ein Bogen von der Anekdote in die Jetzt-Zeit gespannt wird (z.B. indem eines Tages eine neue Person hinter der Kasse steht, die Rudis Geschichte nicht kennt und keine Geduld mit seinem fahrigen Verhalten hat).
In Du liebst mich nicht von Klara Frohsinn wird ein Riss in der Wand zur Metapher für Probleme in einer Partnerschaft: Während sich die Hauptfigur daran stört und darüber reden will, sitzt ihr Partner nur vor dem Fernseher, sieht den Riss nicht und möchte ein entsprechendes Gespräch auf später verschieben, weil seine Sendung gerade so interessant ist. Ich mag es, wie sich hier reale und metaphorische Ebene überlagern, aber leider empfinde ich die ganze Situation auch als furchtbar klischeehaft: Die Szenerie von einer Frau, die sich lautstark aufregt und damit droht, den Partner aus der Wohnung zu werfen, und dem Mann, der das alles gleichgültig hinnimmt und in der momentanen Situation kein wirkliches Problem sieht, ist schon so ausgelutscht, dass ich sie nicht mehr sehen mag. Auch den Dialog finde ich recht plakativ, und vor allem den Satz „Ich lege dir mein Herz zu Füßen und du trittst einfach darauf herum“ ziemlich abgedroschen.
Immerhin das Ende finde ich interessant, denn da zeichnet sich ab, dass wenige Worte ihres Partners genügen, um die Hauptfigur wieder zu besänftigen. Eine kleine Andeutung darauf, dass sie bei all ihrer berechtigten Wut lieber nachgibt und ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellt, als ihren Partner zu verlieren.
Mit Drachenmond von June Is kann ich leider nicht viel anfangen, weil mich Geschichten mit Magie und Drachen so gar nicht ansprechen. Aber ich finde es toll, dass auch mal eine Figur im Großeltern-Alter etwas Spannendes erleben darf!
Das andere Ich von Emeryn Mader erzählt von einer Frau, die mit der Entfremdung von ihrer Zwillingsschwester und ihrer eigenen Individualität hadert. Ich mag die sprachliche Gestaltung und die Metaphorik, mit der die Protagonistin ihre Verzweiflung über diese Entfremdung ausdrückt. Dabei wirkt sie geradezu besitzergreifend gegenüber ihrer Schwester und wünscht sich eine Kontrolle und Ähnlichkeit aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zurück, die jetzt, nachdem beide erwachsen geworden sind, nicht mehr bestehen kann, und vielleicht auch damals schon ein unerwiderter Wunschtraum war.
Am Ende sind es mir allerdings zu viele Metaphern hintereinander. Der Tisch im Restaurant als Abgrund zwischen ihnen, das Band, das beide verbindet, der Kokon, in den die Schwester sich einwickelt, und am Ende das metaphorische Haus, in dem sich ihr Innenleben verbirgt. Das wirkt auf mich zu verkrampft.
Mit der Hauptfigur aus Dissonanz von Margarita Neumüller konnte ich gut mitfühlen, denn sie erinnert mich an mich selbst als Teenager: Überfordert von einer reizüberflutenden Außenwelt, begleitet von dem Gefühl, nirgendwo dazuzugehören und sich am liebsten gänzlich von der Welt isolieren zu wollen. Der Einstieg in die Geschichte hat mir gut gefallen, das Untertauchen im Wasser, um der lauten Umgebung für kurze Zeit zu entfliehen.
Trotz objektiv schöner Momente und netter Mitmenschen liegt über allem eine trübe Hoffnungslosigkeit. Die zieht sich auch durch den gesamten Text, dessen Ende mich allerdings etwas ratlos zurücklässt, weil im letzten Satz nur erneut zusammengefasst wird, was die Hauptfigur vorher schon mehrfach in anderen Worten ausgedrückt hat. Eine Resignation ohne Lösungsansatz, den die Hauptfigur in ihrer Situation wahrscheinlich auch gar nicht vor Augen hat. Aber durch die durchgängig gleichbleibende Stimmung wird mir der Text wohl nicht im Gedächtnis bleiben. Das liegt auch daran, dass ich mich mit dem Schreibstil schwergetan habe, der stellenweise etwas steif und umständlich wirkt oder wo ich manchmal erst mal darüber nachdenken musste, ob Formulierungen so überhaupt funktionieren (z.B. „Zustand […], der […] das Gewicht auf meiner Brust entlastete“ oder „mehr zu sagen, als wonach ich mich fühlte“).
In Fadenriss von Wiebke Tillenburg mag ich die Atmosphäre und die vielen Details, die die Hauptfigur bei ihrem Friedhofsspaziergang entdeckt. Es ist ein ruhiger Text, der sich vor allem mit Tod und Vergessenwerden auseinandersetzt, aber nicht auf eine deprimierende Art und Weise, sondern eher auf eine offene und neugierige, das gefällt mir.
Für diesen Kritikpunkt kann die Geschichte selbst nichts, aber: Das war an dieser Stelle schon der dritte Text in Folge, der fast ausschließlich aus Gedanken und Eindrücken der Hauptfigur besteht und eine durchgängig gleichbleibende Stimmung aufweist. Zur Abwechslung hätte ich wieder mal etwas mit mehr Handlung gebrauchen können.
Coraline von Liv Modes hat mir bis dahin am besten gefallen, auch wenn ich glaube, die Geschichte nicht vollständig verstanden zu haben. Die Hauptfigur sitzt in der U-Bahn und ist auf dem Weg zu einem Termin, den sie eigentlich doch nicht wahrnehmen möchte. Es werden einige Hinweise gestreut, worum genau es geht (die beim nochmaligen Lesen auch eindeutig sind), aber ich war erst auf der falschen Fährte und erst in der Mitte der Geschichte ist es mir klar geworden. Die Hauptfigur findet eine scheinbare Verbündete in einer fremden Frau, die ebenfalls in der U-Bahn sitzt und malt sich aus, dass sie sie verstehen könnte, nur um dann bitter enttäuscht zu werden. Das fand ich sehr stark geschrieben! Ebenso kommen die Beklemmung und Nervosität der Hauptfigur gut rüber, sodass ich trotz der Kürze des Textes und obwohl das Thema mich persönlich nicht betrifft gut mit ihr mitfühlen konnte.
Zwei Dinge habe ich aber nicht verstanden: Zum einen den „Rewind“–Abschnitt. Erst beim zweiten Lesen habe ich gemerkt, dass das wahrscheinlich ein Perspektivwechsel zur fremden Frau darstellt (oder?). Im Kontrast zur U-Bahn erscheinen mir hier die vagen metaphorischen Aussagen („Ich werde Schwert und Schild, und du kämpfst“) seltsam ankerlos und schwülstig. Zum anderen ist es mir ein Rätsel, warum die fremde Frau der Hauptfigur plötzlich mit so viel Verachtung begegnet und in ihr eine Bedrohung zu sehen scheint. Wenn sie wüsste, was die Hauptfigur vorhat, dann könnte ich das verstehen, aber so? Sie ist ja auch für sie eine völlig fremde Person in der U-Bahn.
Zeit des Rehbocks von Vanessa Glau besteht hauptsächlich aus Naturbeschreibungen rund um einen Bergsee, die sprachlich zwar ganz nett gestaltet sind, mich nach einigen Absätzen aber gelangweilt haben. Die Hauptfigur bezeichnet sich selbst als rastlos und eine Nomadin, mehr erfahre ich nicht über sie. Sie sinniert darüber, dass sie an diesem Bergsee ein Häuschen bauen will, zieht dann aber doch wieder weiter. Sie sieht einen toten Rehbock und wird sich bei diesem Anblick der Vergänglichkeit aller Dinge bewusst. Alles irgendwie recht platt und nichtssagend. Schade, mit der ruhigen und gleichzeitig etwas unheimlichen Bergsee-Atmosphäre hätte man bestimmt eine gute Geschichte erzählen können.
Mit Viel hin von Alexandra Resch wurde mir wieder das Thema der Teil-Anthologie (Risse) bewusst, dazu hatte ich rückblickend in den vorherigen Geschichten gar keinen Bezug gesehen. Jedenfalls geht es um eine Person, die auch als Erwachsene oft hinfällt, obwohl man damit ja eigentlich ab einem gewissen Alter aufhört. Daher auch die vielen Risse in ihren Hosen, und besonders einen davon verbindet sie mit einer spezifischen Begegnung in ihrer Vergangenheit. Die Idee finde ich sehr kreativ; Hinfallen ist etwas, worüber ich lange nicht mehr nachgedacht habe, weil ich eben aus dem ‚Hinfall-Alter‘ schon lange rausgewachsen bin. Ich mag auch die beschriebene Erinnerung an den kleinen Jungen aus ihrer Gastfamilie, der ihr Hinfallen auf kindlich-sympathische Weise kommentiert.
Insgesamt ist der Text eine gelungene kleine Anekdoten-Erzählung, die gut zur Auflockerung zwischendurch in eine Anthologie passen würde – leider besteht diese Anthologie aber selbst überwiegend aus kurzen Texten, die ich unter „ganz nett für zwischendurch“ einsortieren würde.
Höhle von Felixz Eckstein hat zur Abwechslung mal eine wirkliche Handlung: Auf einer Klassenfahrt geht ein Junge als Mutprobe in eine Höhle hinein und verschwindet darauf spurlos; sein bester Freund Max muss mit dem Verlust umgehen. Diese Trauer hätte mich berühren können, wäre der Text nicht so ungeschickt und abgehackt erzählt worden. Ich bin davon ausgegangen, dass hier ein Schreib-Anfänger am Werk war, der zwar gute Ideen hat, aber noch wenig Übung in der Umsetzung. Umso überraschter war ich, als ich in der Vita des Autors erfahren habe, dass er nicht nur jahrelange Schreiberfahrung besitzt, sondern sogar Kreatives Schreiben studiert hat. Dann war das vielleicht Absicht und der Stil sollte möglichst kindlich und Schulaufsatz-mäßig klingen? In meinen Augen leider keine gelungene Idee.
Außerdem glänzt der Text mit einigen Stilblüten: Formulierungen, die nicht zusammenpassen wie „Max […] versteckte seinen Kopf zwischen die Knie“ oder perspektivische Schnitzer wie „Die Höhlenführerin kam zu uns“, obwohl der Text in der Er-Perspektive erzählt ist, es also gar kein „uns“ geben kann.
Auch mit der Handlung (über die ich mich ja erst gefreut habe) habe ich so meine Probleme: Zunächst habe ich geglaubt, die Geschichte geht in Richtung Horror, oder zumindest irgendwie ins Phantastische, denn der Junge wird von der Höhle geradezu verschluckt. Laut der Höhlenführerin ist sie nur ein paar Meter tief, aber er wird darin trotzdem nicht gefunden; woanders hingelaufen sein kann er auch nicht, weil die anderen Kinder aus seiner Klasse ja die ganze Zeit davor standen. Auf dieses Mysterium wird danach aber nicht mehr eingegangen; vielmehr verschiebt sich der Fokus völlig auf Max und seinen Umgang mit diesem Verlust. Von den Erwachsenen wird vielfach die Vermutung aufgeworfen, dass der Junge einfach im Wald verschwunden ist, aber das ist (wie oben schon ausgeführt) hier gar nicht möglich – und ich frage mich, warum nicht? Warum ein so mysteriöses Szenario aufbauen und es dann nicht nutzen? Sehr schade.
Bereit von Annina Anderhalden ist die Momentaufnahme einer Krankenhausentlassung: Nachdem sie mehrere Monate wegen einer Essstörung in stationärer Behandlung war, darf Greta nun nach Hause gehen. Ich mag die Details wie die ungewohnte Leere in ihrem Krankenhauszimmer, das sie jetzt hinter sich lässt, und auch ihr emotionaler Zwiespalt hat mir gut gefallen: Einerseits fällt eine Dunkelheit von ihr ab, andererseits hat sie Zweifel, ob sie außerhalb des Krankenhauses bestehen kann und nicht wieder rückfällig wird. Mir gefällt auch die Unterstützung, die Greta von ihrem Vater und dem Krankenhauspersonal erfährt, und die Hoffnung auf ein besseres Leben, die trotz der Zweifel durch den Text durchschimmert.
Hier ist kein Leben mehr von Julia Heuer scheint an die allererste Geschichte, Hier ist einmal Leben gewesen, anzuknüpfen, denn auch hier streift die Hauptfigur durch eine menschenleere, postapokalyptische Welt. Die ist sehr anschaulich beschrieben, und dieses Mal bleibt es nicht bei einer vagen Momentaufnahme, sondern wird konkreter: Die Hauptfigur steht nach einer langen Wanderung zufällig wieder vor dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Darin wird sie mit Erinnerungen konfrontiert, die mich unter anderen Umständen vielleicht hätten berühren können. Die Szene mit dem Plattenspieler mochte ich zum Beispiel an sich schon, ich hatte aber große Schwierigkeiten, die Prämisse als Kontext zu akzeptieren: Die Hauptfigur ist nach einer nicht näher benannten Katastrophe (die scheinbar irgendwas mit der Sonne zu tun hatte) der einzige überlebende Mensch weit und breit. Ich kann leider keine wirkliche Bindung zu ihr aufbauen und mit ihr mitfühlen, wie sie dem Leben vor der Katastrophe nachtrauert, wenn ich nicht mal weiß, worin die Katastrophe überhaupt bestand und warum sie als einzige überlebt hat, scheinbar sogar körperlich unversehrt. Was ist mit den anderen Menschen passiert? Wie hat sie bisher überhaupt überlebt, wo doch alles ausgetrocknet und Wasser knapp zu sein scheint? Im ersten Text hat diese Vagheit noch funktioniert, aber hier, wo die Geschichte stärker ins Detail geht, erscheint es mir einfach zu unglaubwürdig und undurchdacht. Schade.
Im Schatten das Licht von Hanna Bertini ist meiner Meinung nach bis dahin einer der stärksten Texte in dieser Anthologie: Irgendwann beginnen Schatten in Carinas Leben eine Rolle zu spielen. Als Kind sieht sie in ihrem eigenen Schatten eine Vorausdeutung auf die Erwachsene, die sie einmal sein könnte, später sind Schatten eng mit den Tätern von übergriffigem Verhalten und sexuellem Missbrauch verbunden. Und am Ende rettet die Dunkelheit selbst sie vor einem anderen Übergriff. Trotz der Kürze des Textes und der zeitlich weit auseinanderliegenden Szenen, die nur schlaglichtartig beleuchtet werden, wird hier eine sehr prägnante Geschichte erzählt, die ebenso gut geschrieben wie schmerzhaft ist.
Nur ein Detail am Anfang hat mich irritiert: Dort beobachtet Carina den langen Schatten, den sie in der sommerlichen Mittagssonne wirft. In der Mittagssonne wirft man aber normalerweise nur einen kurzen Schatten.
In Rückkehr ins Leben von Nika Sachs steckt ein Anwalt in einer Midlife Crisis und schmeißt seinen Job hin, um ein Sabbatjahr in Schottland zu machen. Seine erste Station: Ein kleines Dorf am Meer, wo er neue Bekanntschaften schließt und auch ein erstes kleines Abenteuer erlebt. Das ist alles ganz nett erzählt, ich bin nur leider kein Fan von Selbstfindungs-/Aussteiger-Geschichten, weil sie häufig furchtbar plakativ sind. Auch hier sinniert der Protagonist recht platt über die Zwänge des Kapitalismus, der im Gegensatz zu der Freiheit stehen, die er in seinem neuen Leben erlangen möchte.
Was mir gefallen hat, ist die Darstellung seiner Anspannung – er steckt noch immer in seinen alten Mustern fest und kann schlecht nichts tun oder sich von den vermuteten Erwartungshaltungen anderer Menschen befreien. Der Rest der Geschichte konnte mich aber nicht wirklich mitreißen: Seine neuen Bekanntschaften bleiben oberflächlich, seine vermeintlich übernatürliche nächtliche Begegnung lässt sich enorm einfach erklären. Außerdem sind mir einige Fehler aufgefallen: von falschen Wörtern („Nichts in unmöglich“ statt „Nichts ist unmöglich“) bis zu gedoppelten Sätzen, die an der zweiten Stelle inhaltlich überhaupt nicht hinpassen.
In Das Ende der Geschichte von Liv Modes geht es um das Ende einer toxischen Beziehung. Zumindest glaube ich das herauszulesen. Der Text ist nämlich mit so vielen vagen Metaphern vollgestopft, dass ich nicht erkennen kann, was genau passiert ist. Dabei fängt es ganz interessant an: Die Geschichte wird erzählt und zwischendrin stehen in Kursivschrift Anmerkungen, die zunächst eher schreibhandwerklicher Natur zu sein scheinen, später aber auch die persönliche Perspektive auf das Erzählte erweitern. Dieser Aufbau gefällt mir an sich gut, ebenso wie ich einige sprachliche Bilder auch sehr gelungen fand (z.B. „aber das Blitzen von Reißzähnen sah für mich schon immer aus wie das Funkeln von Hoffnung“). In ihrer Aneinanderreihung wirken sie aber leider so vage, dass ich keinen richtigen Zugang zur Geschichte finde, und leider driften sie auch oft in den Kitsch ab. Es werden große Worte geschwungen (Lüge, Wahrheit, Liebe, Schmerz), aber ich bin beim Lesen einfach zu weit vom Geschehen entfernt, um damit etwas anfangen zu können.
Am Ende vermischen sich Metapher und Reales, was ich ganz gern lese, aber der Schluss lässt mich ratlos zurück: Plötzlich ist die Hauptfigur dabei, sich in der Wohnung der (von ihr ermordeten?) (Ex-?)Partnerperson das Leben zu nehmen. Das wirkt auf mich wie ein orchestrierter Akt in einem Gesamtkunstwerk, denn das wirkliche Warum bleibt offen. Und ich fühle mich, wie gesagt, nicht nah genug am Geschehen und an den Figuren dran, als dass es mich erschüttern oder berühren könnte.
Nach viele Slice of Life-Texten, in denen viel nachgedacht wurde, ist Einheit 3 von Jol Rosenberg eine willkommene Abwechslung, denn diese Geschichte lässt sich klar einem Genre (Science Fiction) zuordnen und ist auch länger, sodass ich endlich mal richtig in die Erzählung hineintauchen kann. Und die gefällt mir gut: Nachdem die Hauptfigur, ein Mensch, aus der Armee desertiert ist, sitzt dey auf einem fremden Planeten fest und freundet sich mit einem Bot, einer Mensch-Maschine-Einheit, an. Ich mag das Worldbuilding rund um die MME und ihr Verhältnis zu den Menschen, und auch die Dynamik zwischen der Hauptfigur und der MME fand ich sehr gut ausgearbeitet und spannend zu lesen.
Im Laufe der Geschichte passieren noch mehr spannende Dinge und es wird eine Folter-Szene übersprungen, was ich auf diese Art noch nicht gelesen habe, aber eigentlich ganz gut finde. Es ist nicht immer notwendig, solche Szenen für Schock-Effekte auszuschreiben; wir haben sie schon dutzende Mal ausführlich gelesen und in Filmen gesehen, unsere Fantasie kann also die Leerstellen füllen. Etwas unglücklich finde ich aber, dass an der Stelle zeitlich viel gerafft wird und gleich danach die Ausbreitung der Kindheits- und Jugendgeschichte der Hauptfigur folgt. Dadurch habe ich ein wenig die Verbindung zur Hauptfigur in der Gegenwart verloren, was ich schade finde, weil ich doch vorher noch so nah an demm dran war.
Der Twist am Ende hat mir aber wieder richtig gut gefallen, und auch den subtilen Humor an einigen Stellen mochte ich sehr.
In Der Birnbaum, das Haus der Vergangenheit von Klara Frohsinn kehrt eine siebzigjährige Frau zurück zu dem Ort, an dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Die Geschichte beginnt gleich mit einem halben Widerspruch, denn einerseits fühle es sich an, als sei sie nie weggewesen, andererseits steht ihr Elternhaus nicht mehr – an dieser Stelle ist nur noch ein Stück Wiese.
Ehrlich gesagt verstehe ich nicht ganz, was dieser Text mir sagen will. Die Protagonistin schwelgt in Kindheitserinnerungen, die recht abgehackt erzählt sind und in mir kaum Emotion auslösen können. Sie erscheinen mir auch überwiegend unspektakulär. Am Ende wird die Protagonistin aber richtig dramatisch und redet davon, dass sie mit der Vergangenheit abschließen müsse, um nach vorn zu sehen. Hier habe ich mich gefragt: Womit muss sie denn abschließen? Welches Kindheitstrauma sucht sie nach 60 Jahren noch immer heim? Entgeht mir da etwas zwischen den Zeilen?
Genauso geht es mir auch, als die Protagonistin erzählt, für ihren Bruder wäre die Rückkehr an diesen Ort zu schmerzhaft gewesen. Warum, wird nicht erklärt. Über ihn erfahre ich nur, dass er am Tag seiner Jugendweihe den Hühnerstall ausmisten musste. Klar, das ist zwar nicht sonderlich erfreulich, und was dem einen Menschen nichts ausmacht, kann einen anderen traumatisieren – aber ist das wirklich etwas, das einem sechs Jahrzehnte lang nachhängt? Oder ist die Hühnerstall-Sache nur eine Metapher für eine Reihe von unerfreulichen Kindheitserlebnissen? Das ist bei mir leider nicht angekommen.
Außerdem befinden sich im Text mehrere Zeilenumbrüche mitten im Satz bzw. an einer Stelle sogar mitten im Wort, das hat mich beim Lesen sehr irritiert.
Aber eine positive Sache habe ich am Ende doch noch: Ich mag es, wie die Beziehung der Protagonistin zu ihrem Vater dargestellt wird, bei dem sie in einer kalten Zeit doch noch etwas Wärme findet.
Fäden von Wolfgang Köhn beginnt mit einer kreativen Idee: Dem Protagonisten sind über Nacht feine, durchsichtige Fäden aus den Fingerkuppen gewachsen. Schnell stellt er fest, dass er damit Dinge reparieren kann – eine Druckstelle in einem Apfel, einen kaputten Computer, sogar sein eigenes Gehirn – er heilt scheinbar seinen depressiven Zustand. Letztendlich scheinen die Fäden sogar das Potential zu haben, die gesamte Erde und die Menschheit selbst zu heilen.
Die Grund-Idee finde ich, wie gesagt, sehr spannend, und die Geschichte ist auch gut geschrieben, aber was aus der Idee gemacht wurde … hm. Der Anfang erinnert mich ein wenig an Kafkas Verwandlung, und die Sache mit den Fäden wirkt so abstrakt, dass ich die ganze Zeit darüber nachgedacht habe, wofür das eine Metapher sein könnte. In Anbetracht des Endes wäre eine esoterische Message wie ‚Die böse Schulmedizin hält uns davon ab, unsere Verbindung zur Natur zu finden und die Erde zu heilen‘ gar nicht mal so abwegig. Mit solchen Einstellungen kann man mich leider jagen. Die Alternative wäre, dass der Protagonist halluziniert und die Medikamente, die er am Ende bekommt, Psychopharmaka sind. Das wäre dann ein sehr plattes und uninspiriertes Ende.
Die Geschichte lässt offen, ob die Fäden real sind, aber da ich von keiner der beiden Varianten ein Fan bin, ist das für mich kein Gewinn. Vielleicht gibt es ja noch eine dritte, die ich nicht auf dem Schirm habe.
In Gestörter Empfang von Swantje Petersen versucht ein älterer Mann tagelang erfolglos, sein kaputtes Radio zu reparieren. Dabei wird der Zustand des Radios immer mehr zu einer Metapher für seinen eigenen Gesundheitszustand. Ich mag das, und mir gefällt auch, wie die Beziehung zu seiner Tochter mit dieser Metapher in nur wenigen Absätzen sehr klar gezeichnet wird. Der letzte Satz ist zwar ein bisschen Holzhammer-Methode, führt die beiden Ebenen aber treffend zusammen.
In meinen Augen hätte der Text noch etwas Feinschliff vertragen können. Ich bin beispielsweise über einige vermeidbare Wortwiederholungen gestolpert. Ansonsten finde ich ihn aber gelungen.
Die Hauptfigur in Werkzeugkasten aus der Vergangenheit von Nika Sachs versucht, sich mit einem Waldspaziergang von ihrem Weltschmerz abzulenken, und führt danach mit ihrer Oma ein Gespräch über den Zustand der Welt. Ich bin zwiegespalten. Einerseits enthält der Text eine motivierende politische Message, was ich gerade zum jetzigen Zeitpunkt unglaublich wichtig finde. Andererseits scheint er keinen anderen Zweck zu verfolgen, als diese Message zu transportieren, und das auch ziemlich plakativ. Die Figuren selbst bleiben blass; sie scheinen nur zu existieren, um über den aktuellen Stand der Welt zu sinnieren.
Obwohl die Hauptfigur im jungen Erwachsenenalter zu sein scheint, wirkt sie recht naiv, als habe sie gerade erst von der Existenz von Kriegen, Ungerechtigkeit und der Klimakrise erfahren. An einer Stelle sagt sie sogar wortwörtlich: „Diese Welt ist so dermaßen voller Gewalt und Streben nach Macht, ich zerbreche an ihr.“ Und gleich danach: „Ich kann das nicht ertragen, aber ich fühle mich auch nicht mutig, sie zu verändern.“ Das klingt so, als sei fehlender Mut das Einzige, das die Hauptfigur daran hindere, die ganze Welt zu verändern. Ziemlich großspurig.
Wie gesagt, die Message am Ende, dass man immer etwas tun kann und sich nicht von Angst lähmen lassen darf, finde ich gut und wichtig. Vom rein erzählerischen Standpunkt hat mich dieser Text aber nicht abholen können.
Unverständnis von Katherina Ushachov gibt einen Einblick in den Alltag von Kira, der aufgrund ihrer Behinderung etwas anders aussieht als der ihrer Eltern. Ihre Mutter gibt ihr ständig ungefragt Tipps, die für Kira gar nicht funktionieren, und schickt ihr Videos von Menschen, die „trotz“ ihrer Behinderung herausragende Leistungen vollbracht haben. Immer mit der unterschwelligen Erwartung, dass sie das ja auch schaffen könne, wenn sie sich nur Mühe geben würde.
Ich mag es, wie sich Kira ihr Leben organisiert hat: Sie weiß, wo ihre Stärken und ihre Grenzen sind, und sie umgibt sich mit Leuten, die verstehen, dass sie einige Dinge eben anders machen muss als vom Großteil der Gesellschaft erwartet. Und sie ist zufrieden damit; es ist das Unverständnis der Eltern und anderer Menschen, was ihr zu schaffen macht, nicht ihre Behinderung selbst.
Diese Perspektive wird noch viel zu selten beleuchtet, deshalb finde ich es gut und wichtig, dass darüber geschrieben wird. Es wird in diesem Text sehr deutlich, warum gut gemeinte Ratschläge und „inspirierende“ Geschichten über behinderte Menschen gar nicht mal so toll sind – vielleicht regt das ja einige Leute zum Nachdenken über Stereotype und ihr eigenes Verhalten an.
Aus erzählerischer Sicht bin ich leider weniger begeistert. Wahrscheinlich ist es meine Slice of Life-Müdigkeit, die zum Ende dieser Anthologie durchkommt. Kira scheint in diesem Ausschnitt nur aus ihrer Behinderung und ihrem Job zu bestehen, sonst scheint sie keine Persönlichkeit zu haben. Und der Text wirkt irgendwie sehr … erklärend? Wäre er nicht in der dritten Person geschrieben, hätte ich mir auch gut vorstellen können, dass er ein Erfahrungsbericht/Blogeintrag ist, der sich explizit an ein nicht-behindertes Publikum richtet. Aber na ja, vielleicht muss man auch mal so on the nose sein, um klar mit Stereotypen aufzuräumen.
Große, rote Flicken von Janina Haselbach ist eine Geschichte über eine ältere Frau mit Demenz, inklusive Rückblenden zur Kindheit der mittlerweile erwachsenen Enkelin, mit gelungenem Bezug auf das Vergangene in der Gegenwart und einem positiven Ausblick. Das ist gut geschrieben und in seiner Kürze sehr effektiv erzählt. Leider hebt es sich nicht ab von den vielen Geschichten über demente Großmütter, die ich schon gelesen habe.
Autoreparatur von Jol Rosenberg ist zum Abschluss eine herrlich skurrile Geschichte: Die Hauptfigur entwickelt eines Tages den Drang, an einem Auto herumzuschrauben. Nachdem sie die Reparatur aller Klein-Elektrogeräte im Umkreis nicht zufriedenstellt, zieht sie los und beginnt, einfach ein zufälliges am Straßenrand geparktes, marodes Auto zu reparieren. Der Besitzer ist natürlich überhaupt nicht begeistert, dass sich da jemand Fremdes an seinem Auto zu schaffen macht, also ruft er die Polizei – die beteiligt sich aber nur an der fröhlichen Auto-Schrauberei. Das Ganze ist natürlich komplett unrealistisch, aber auch auf eine so witzige Weise bizarr, dass es mich sehr gut unterhalten hat. So schließe ich diese Anthologie immerhin mit einem Lächeln ab.
3/5 reparierten Rissen