Kurzmeinung: Starke Kurzgeschichten und Gedichte über unterschiedlichste Facetten von Queerness.
Ein Disclaimer vorweg: Diese Anthologie enthält auch eine Kurzgeschichte von mir. Ich bin aber nicht hier, um Eigenwerbung zu machen, sondern weil ich es schade finde, dass dieses Buch nach seinem Erscheinen unter dem Radar versunken ist. Und dagegen möchte ich etwas tun, denn es enthält wirklich bemerkenswerte Texte, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Von intimen Erfahrungsberichten über herausragende Gedichte bis hin zu witzigen Analogien über Staubsauger – sowohl in der Form als auch im Inhalt sind die enthaltenen Texte sehr vielfältig. Und mit einem Umfang von nur 104 Seiten lässt es sich auch recht schnell durchlesen.
Den Anfang macht Ingo S. Anders mit Der Automat. Darin bekommt ein trans Mann seine Periode und schleicht sich auf die Damentoilette, um dem dort angebrachten Automaten einen Tampon zu entlocken – was sich als schwieriger herausstellt als gedacht. Trotz der unangenehmen Situation ist der Text in einem humorvollen Ton erzählt, und ich mag es, wie sich die Solidarität auf der Damentoilette und durch den Partner des Protagonisten zeigt.
Was ist das hier für eine Straße?, ebenfalls von Ingo S. Anders, erzählt eine ernstere Geschichte: Es sind die Reflexionen eines trans Mannes, der sich, als er noch als Frau wahrgenommen wurde, ganz selbstverständlich mit seinem Freund in der Öffentlichkeit zeigen konnte, jetzt dafür aber schwulenfeindlich angegangen wird. Ein bitterer Einblick in einen Alltag, der vom Vermeiden bestimmter Orte für die eigene Sicherheit geprägt ist.
Im Gedicht wie sag ich’s von Ly Böhnlein sinniert das lyrische Ich darüber, auf welche Weise es sich am besten outen soll. Ich mag es, wie die unterschiedlichen Varianten gegenübergestellt werden – einige laut, einige leise, einige groß und dramatisch, einige unaufgeregt und im Kleinen. Die letzte Variante, die sich auch als abschließende Entscheidung lesen lässt, finde ich sehr stark und auf den Punkt gebracht.
nichts wärmt so schlecht wie deine worte, ebenfalls ein eindrucksvolles Gedicht von Ly Böhnlein, spielt mit der Metapher von Wärme und Kälte, während das Gegenüber des lyrischen Ichs immer wieder den Satz „es ist nur eine phase“ äußert.
Ebenfalls von Ly Böhnlein stammt der Prosagedicht-artige Text Phase, die, der mich auch sehr beeindruckt hat. Darin spürt das erzählende Ich mithilfe der verschiedenen Definitionen des Wortes „Phase“ den eigenen Empfindungen nach und kommt am Ende zu einem selbstbewussten Schluss.
Müde von Paulina Gluth ist ein sehr persönlich wirkender Einblick in das Leben einer bisexuellen Person. Der Text erzählt von der Erkenntnis über das eigene ‚Anderssein‘, von abfälligen Kommentaren bis hin zur Müdigkeit darüber, die gleichen Bemerkungen und Abwertungen immer wieder zu erleben. Kurz und effektiv, gefällt mir!
In Freund:in von Rebekka Görtler geht es um Mandy, die selbst pansexuell ist, ihre Gedanken dazu teilt und sich an eine Szene in der Sport-Umkleide erinnert: Dort steht sie gegen die lesbenfeindlichen Kommentare auf, die ihre Mitschülerinnen über die Sportlehrerin loslassen. Diese Mobbing-Sprüche sind erschreckend realistisch, deshalb hat es sich umso besser gefühlt, dass jemand dagegenhält. Und dass die Szene schließlich gut ausgeht, auch wenn ich persönlich kein Fan von klischeehaften ‚… und dann küssen sie sich plötzlich‘-Enden bin.
Puls von Jonas Hirner ist ein kurzes, ansprechend formatiertes und auf den Punkt gebrachtes Gedicht über die eigene Identität. Da sitzt jedes Wort, gefällt mir gut!
Willkommen bei Mutti von Jasmin Cornelia Hohaus erzählt von einer Frau, die mit einer trans Frau verheiratet ist und sie durch die Höhen und Tiefen ihrer Transition begleitet hat. Der Großteil des Textes spielt im Haus der Eltern der Protagonistin, die über ihre Frau und ihre Entscheidung, nach ihrem Coming Out mit ihr zusammen zu bleiben und Kinder mit ihr bekommen zu wollen, nur die hässlichsten Worte übrig haben. Im Gegensatz dazu steht die wundervolle Stärke, mit der die Protagonistin und ihre Frau gegen alle Widerstände zueinanderhalten. Der letzte Satz der Mutter ist wieder wie ein Schlag in den Magen und die Geschichte endet mit einer Frage, die unbeantwortet bleibt. Ich hätte es stärker gefunden, wenn sie beantwortet worden wäre und die Protagonistin sich für eine Handlung entschieden hätte, aber ich kann auch ihren Zwiespalt verstehen: Zwischen dem Drang, einfach zu gehen und den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, und dem Versuch, ihre Eltern doch noch von ihren hasserfüllten Ansichten abbringen zu wollen.
Sprachbezug von Mel Irmey ist ein großartiges Gedicht, das gekonnt mit Sprache und Form spielt. Mit Witz und Gefühl für Zwischentöne bricht es das System der Zweigeschlechtlichkeit auf, spielt mit Grammatik, Klischees und Doppeldeutigkeiten. Ich sage nur: „Norm-Aal“ und „Spezi-Fisch“. Herausragende Lyrik, ich lieb’s!
KZ von Herbert Jost-Hof ist ebenfalls ein herausragendes Gedicht, aber auf ganz andere Weise: In nur neun Zeilen erzählt es von einem Menschen, der als Homosexueller in einem Konzentrationslager ermordet wird. Erdrückend und verdichtet geschrieben.
Der Text von Johannes Keim trägt den einfachen Titel Ich bin schwul und erzählt auch genau davon: Vom Schwulsein in einer Welt, in der das angeblich kein Thema mehr sei, in der Diskriminierung und Klischees demgegenüber aber immer noch auf der Tagesordnung stehen. Sehr persönlich und schmerzhaft wirken die Schilderungen vom Mobbing in der Schule, wo „schwul“ noch ein Schimpfwort ist und Ehrlichkeit über die eigene Orientierung mit noch härterer Ausgrenzung beantwortet wird. Ein starker Text, der vor Augen führt, dass es der Gesellschaft eben immer noch nicht egal ist, wen man liebt.
Träume in Grün und Fäule von Jonathan Krupitza ist ein Prosa-Gedicht, das von Kämpfen mit der eigenen Körperlichkeit erzählt. In geschickte Wald-Metaphern übersetzt entfaltet sich die Sehnsucht nach einer Freiheit, die dem lyrischen Ich bisher fehlt. Gefällt mir gut!
In Ich. Du. Er. Sie. Es. Wir. Ihr. Sie. von Jasmin Lincke geht es um ein trans Mädchen, das während einer scheinbar harmlosen Grammatik-Übung in der Grundschule in eine unangenehme Situation gerät. Ich finde es toll, auch mal eine ganze Geschichte aus der Perspektive eines trans Kindes zu lesen, das das eigene ‚Anderssein‘ zwar schon wahrnimmt, es aber noch nicht richtig einordnen kann. Es gibt viel zu viel Propaganda darüber, dass Kinder angeblich von irgendwas oder irgendwem ‚trans gemacht‘ werden, dabei stoßen sie in der Wirklichkeit meist auf Ablehnung und haben keine oder kaum Vorbilder. Das Ende hat mir auch gefallen, als eine Mitschülerin für die Protagonistin aufsteht und ein schlagkräftiges Argument für Akzeptanz liefert. Dass das sofort alle toll finden und die Protagonistin daraufhin widerspruchslos als Mädchen akzeptieren, erscheint mir zwar realitätsfern (Kinder können grausam sein), aber so ein positives Ende tut dieser Geschichte sehr gut.
Justine von Rike Lorenz handelt von zwei queeren Mädchen, die sich in der Schule anfreunden, das öde Kleinstadtleben überstehen, gemeinsam in eine größere Stadt ziehen und deren Freundschaft schließlich zerbricht. Ich mag diese Geschichte sehr, denn sie ist so bittersüß und atmosphärisch erzählt, und sie schneidet auf so wenigen Seiten so viele Themen an: Freundschaft, Liebe, Sex, Diskriminierung, Selbstfindung, queeres Gatekeeping. Sie zeigt, dass Queerness auch mal messy ist und wie bitter es sein kann, Freund*innen aus der Community zu verlieren, wenn man plötzlich nicht mehr für ‚queer genug‘ gehalten wird. Ein starker Text!
Dein Regenbogen von Henning Mertens ist ein Gedicht über queerfeindliche Hetze und die Aufrechterhaltung eines heteronormativen status quo. Aufbau und Reime finde ich gelungen, mir ist nur nicht ganz klar, wer das angesprochene „Du“ ist. Auch der Sinn der immer wieder wiederholten Zeilen „Du leugnest es, doch jeder weiß / Dein Regenbogen ist schwarz-weiß“ erschließt sich mir nicht ganz. Das Bild des schwarz-weißen Regenbogens finde ich zwar stark, aber das Leugnen passt für mich nicht rein. Menschen, die offen queerfeindliche Hetze betreiben, streiten das ja in den seltensten Fällen ab.
Aus den Augen der anderen betrachtet von Nico Mittler ist ein Gedicht über das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ich mag die Metaphorik des aufrichtigen Selbst, das „im toten Winkel“ und „im Bartschatten“ steht, und mir gefällt das Ende, mit einer Hoffnung auf ein aufrichtiges Gesehen-Werden.
Schreib mich, Gedicht, ebenfalls ein Gedicht von Nico Mittler, erzählt vom Verstummen im Angesicht eines überwältigenden Alltags und der Nachrichten. Auch hier liebe ich die Metaphorik, die ungewöhnliche Umkehr von Autorin und Gedicht, sowie den hoffnungsvollen Anklang am Ende.
Ganz einfach, ein ganz besonderes Mädchen, ebenfalls ein Gedicht von Nico Mittler, schildert die Szene eines Mädchens, das „vom Kokon der Angst befreit“ am Fluss sitzt. Im Gegensatz zum vorherigen Text sehr harmonisch; dieses Gedicht fühlt sich beim Lesen an wie atmen.
Mein absolutes Highlight in dieser Anthologie ist Let’s Talk About Staubsauger, Baby von Laura Schmidt. Die Idee dahinter ist so einfach wie genial – anhand einer witzigen Analogie wird erklärt, wie es sich anfühlt, asexuell zu sein: „Stell dir vor, du lebst auf einem Planeten, auf dem die meisten Leute in der Pubertät ein sehr, sehr großes Interesse an Staubsaugern entwickeln. […] Staubsaugen ist die schönste Nebensache der Welt, heißt es bei den Menschen, die diese Welt bewohnen.“ Auf eine herrlich absurde Weise wird uns vor Augen geführt, wie sehr Sex – trotz Tabuisierung – in unserem Alltag verankert ist, und wie oddly specific es eigentlich ist, zu erwarten, dass alle Menschen damit etwas anfangen können. An einigen Stellen habe ich laut gelacht, weil diese Staubsauger-Welt unglaublich kreativ und als Analogie so passend ist. Und es sind sogar asexuelle easter eggs darin versteckt! Ein großartiger Text, den ich als ebenfalls asexuelle Person an alle Menschen weiterempfehlen werde, die Asexualität nicht verstehen.
Das Gedicht alle niemand ich körper von Charlie Trips erzählt auf eine rohe und persönliche Weise von der Verletzung des eigenen Körpers, um in ein Idealbild zu passen, nur um am Ende doch nicht gesehen zu werden. Sehr stark!
To Someone With A Bigger Heart von Johanna Weitere erzählt von einer aromantischen Hauptfigur, die die romantischen Erwartungen einer sehr gemochten Person nicht erfüllen kann. Ich bin selbst aromantisch und finde es immer toll, wenn Geschichten darüber geschrieben und auch abgedruckt werden. Die von der Hauptfigur angesprochene Problematik finde ich ebenfalls wichtig: Unverständnis gegenüber aromantischen Menschen selbst innerhalb der queeren Community. Neulich habe ich auf einer Pride-Veranstaltung den Satz „Es ist egal, wen ihr liebt – Hauptsache, ihr liebt!“ gehört. Mit solchen Sätzen hadere ich ebenso wie die Hauptfigur dieser Geschichte. Auch wenn der Schreibstil etwas zu blumig für meinen Geschmack ist, so mochte ich die Darstellung der aromantischen Erfahrung doch sehr.
Vakuumreflexionen von Charline Winter ist … von mir. An dieser Stelle gibt es kein Eigenlob, aber eine kleine Zusammenfassung lasse ich doch mal da: Die Hauptfigur ist aromantisch und asexuell, und während ihre Orientierung von den Menschen um sie herum immer wieder abgewertet und unsichtbar gemacht wird, scheint sie auch körperlich langsam durchsichtig zu werden.
Das letzte Gedicht ist Körpernebel von Izabela Zarebska und erzählt von Fremdwahrnehmung und Bewertung des eigenen Körpers als behinderte, queere oder migrantisierte Person. Hier stecken auch wieder starke sprachliche Bilder drin – ein gelungener Abschluss.
5/5 Regenbögen