Kurzmeinung: Zwölf herrlich skurrile Kurzgeschichten über einen konsumgetriebenen Alltag, die teilweise auch etwas altbacken daherkommen.
Dieses Buch ist eine Übersetzung aus dem Kroatischen, und ich hatte das Glück, bei der Feministischen Buchmesse in Berlin einer Lesung und einem Gespräch mit der Autorin Maša Kolanović und der Übersetzerin Marie Alpermann lauschen zu dürfen. Wobei mich als Horror-Fan hauptsächlich der Untertitel „und andere Gruselgeschichten“ gereizt hatte, allerdings haben die 12 Kurzgeschichten in diesem Buch mit übernatürlichem Grusel wenig zu tun. Vielmehr geht es um den alltäglichen Horror des Kapitalismus, der in Form von Einkaufszentren, Handy-Knebelverträgen und unstillbarer Konsumwut über die Städte schwappt. Dabei ziehen sich Käfer in Form von Metaphern oder realen Insekten wie ein roter Faden durch die Texte und verleihen dem jeweiligen Szenario einen kafkaesken Anstrich. Auch sprachlich ist das kein Zufall, denn wie ich auf der Lesung erfahren habe, spielt die Autorin auch im Original mit der Ähnlichkeit des kroatischen Wortes für Käfer (kukci) und Käufer (kupci), die sich sehr gut ins Deutsche übertragen ließ.
Ich muss zugeben, ich hatte bisher in meinem Leben kaum Berührungspunkte mit Kroatien und musste beim Lesen einige Begriffe und Historisches nachschlagen, um den Hintergrund zu verstehen. Umso faszinierender sind die Gemeinsamkeiten und universellen Aspekte, die beim Lesen hervorgetreten sind. Konsum betrifft uns eben alle, und auch Dinge wie Hass und Rassismus gegenüber Geflüchteten aus Afghanistan oder Syrien treten in sehr ähnlicher Form im Buch wie in der deutschen Realität auf.
Stellenweise fand ich die Texte inhaltlich etwas altbacken und redundant. Hätte mir jemand gesagt, dieses Buch sei in den frühen 2000ern erschienen und nicht im Jahr 2024 (Kroatien: 2019), hätte ich das – wenn die raren Erwähnungen von Smartphones nicht wären – auch geglaubt. Beim Lesen habe ich mir oft gedacht: ‚Ah ja, so müssen sich meine Eltern in meinem Alter gefühlt haben, als plötzlich Kapitalismus war.‘ Die Hauptfiguren der Texte zeigen sich oft überfordert von einer konsumgetriebenen Welt, in der ihnen an jeder Ecke jemand etwas verkaufen will. Das rutscht manchmal in eine ‚Früher war alles besser‘-Schiene, die man auch als nervig-boomerig lesen kann. Einige Figuren und ihre Geschichten erwecken in mir ein ähnlich mitleidiges Gefühl wie die älteren Verwandten, die sich panisch melden, weil sie glauben, sie hätten das Internet gelöscht.
Außerdem erschien mir die Kapitalismus-Kritik manchmal zu Holzhammer-mäßig. Für die gute Hydrierung im Sommer empfehle ich jedenfalls ein Wasser-Trinkspiel mit dem Wort „Kapital“.
Vielleicht bin ich auch zu sehr digital native oder auch capitalism native, um diese immer wieder dargestellte Überforderung wirklich verstehen zu können. Ich habe die Texte aber trotzdem gern gelesen und mich an ihrer Absurdität, ihrer Atmosphäre und ihren interessanten zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Dynamiken erfreut.
In der ersten Geschichte, Lebendig begraben, erfüllt die Hauptfigur ihrer verstorbenen Tante einen letzten Wunsch: Sie am Tag nach ihrer Beerdigung dreimal auf dem Handy, das ihr mit in den Sarg gelegt wurde, anzurufen – denn die Tante hatte große Angst davor, lebendig begraben zu werden. Stattdessen wird aber die Hauptfigur im metaphorischen Sinne begraben, nämlich in einer vom Tourismus überschwemmten Stadt, in der man vor lauter Souvenirshops nicht mal mehr eine Packung Taschentücher kaufen kann. Mit bizarren Kontrasten wird hier die Geschichte einer Familie als Stellvertretung für die Bevölkerung erzählt, die von den kapitalistischen Auswüchsen einer Tourismus-Welle überschwemmt und an den Rand gedrängt wird. Das Ganze ist sehr pointiert geschrieben; teilweise mit ironisch-humorvollem Einschlag, teilweise mit einer Bitterkeit, die deutlich zwischen den Zeilen hindurchschimmert. Sätze wie „Ihre Hüften sind gerade rechtzeitig kaputtgegangen, um einem weiteren Sommer in der Stodt zu entkommen“ oder „Scharen von Einwegmenschen tragen zum Wirtschaftswachstum Dubrovniks bei“ sitzen wie ein gelungener literarischer Faustschlag in den Magen. Auch wenn mir einige Stellen zu Holzhammer-mäßig waren (Stichwort: ‚Kapitalismus böse, früher war alles besser‘), empfand ich diese Geschichte als einen gelungenen Einstieg.
Revolution handelt von Lidija, deren Vater an der Haustür einen Handy-Vertrag unterzeichnet. Damit beginnt die Misere: Es kommt zu immer neuen Zwischenfällen, die alle etwas mit dem Smartphone des Vaters zu tun haben, bis er sich zum Schluss in der perfiden Abrechnungs-Masche des Handy-Unternehmens verheddert, das ihm horrende Summen in Rechnung stellt. Auch hier wieder ein Szenario, das ebenso skurril wie realitätsnah ist. Es endet mit einem emotionalen Brief, den Lidija im Namen ihres Vaters an das Unternehmen schreibt und der sich nach und nach zu einem antikapitalistischen Manifest wandelt, in dem es längst nicht mehr um Handy-Rechnungen geht. Das fand ich richtig spannend zu lesen, auch wenn ich am Ende nichts als Mitleid für diese Figur empfinden konnte, die ihrer Wut auf diese Weise Luft macht und am Ende doch nicht gehört werden wird. Wahrscheinlich ist genau das die Tragik daran.
Schrein dreht sich ebenfalls um Konsum, aber auf eine ganz andere Art: Irgendwann beschließt Anjas Großmutter, dass Anja jetzt alt genug ist, um einen Blick in den „Schrein“ zu werfen, eine Kiste mit Habseligkeiten ihrer sehr früh an Krebs verstorbenen Mutter. Statt unterschiedlichen Gegenständen von persönlichem Wert findet sie jedoch nur eine Menge ausgefallene Kleidung und ein Notizbuch, in dem ihre Mutter ihre Kaufsucht dokumentiert hat, die ihr als Bewältigungsmechanismus für ihre Diagnose diente. Diese Konstellation finde ich faszinierend – Konsum als eine Art rettender Anker. Es fällt schwer, die Mutter unter diesen Umständen dafür zu verurteilen, dass sie sich zu dieser Zeit lieber auf eBay herumgetrieben hat, als sich um ihre Tochter zu kümmern. Genauso geht es Anja; sie schwankt zwischen Wut und Mitleid für die vom Vater allein gelassene Mutter, die im Krankenhaus grauenhafte Prozeduren über sich ergehen lassen musste. Am Ende reflektiert die Mutter in ihren Notizen auch ihr eigenes Verhalten, und die von ihr gestellte Frage, mit der die Geschichte endet, empfinde ich als einen sehr starken Abschluss.
In Ein besseres Leben geht es um eine Studentin, die sich ehrenamtlich für Geflüchtete engagiert. Ihr Engagement hat jedoch nichts Selbsternannt-Heldenhaftes an sich, vielmehr ist sie sich selbst oft unsicher, was sie überhaupt tun soll und wie sie in bestimmten Situationen reagieren soll. Nebenbei dokumentiert sie das rassistische und ablehnende Klima, das in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten herrscht und das der Situation in Deutschland erschreckend ähnlich sieht. In Kroatien sind die faschistischen Symbole, die an die Wände der Geflüchtetenunterkunft geschmiert werden, zwar andere als hier, aber der Hass bleibt der gleiche.
In der titelgebenden Geschichte Werte Käfer zeigt sich die Käfer-Metapher am deutlichsten: Sie finden sich nicht nur in Form von Kakerlaken in der Wohnung der Hauptfigur – auch ihr Sohn wird im nahen Einkaufszentrum, in das sie vor dem Insektenbefall flieht, auf kafkaeske Weise verwandelt. Das Einkaufszentrum verzerrt sich zu einem surrealen Gebilde, während in der Lautsprecherdurchsage „Werte Käufer“ durch „Werte Käfer“ abgelöst wird. Das ist so herrlich absurd und tragikomisch, dass es mich auf eine ungewöhnliche Art begeistert hat. Allerdings schlägt sich hier auch das nieder, was ich ganz zu Beginn schon angedeutet habe: Das Szenario wirkt von meinem Standpunkt aus seltsam altbacken und überholt, die Kapitalismuskritik sehr dick aufgetragen. Vielleicht bin ich wirklich die falsche Generation für diese Geschichte – ich kann mir gut vorstellen, dass meine im Sozialismus aufgewachsenen Eltern Einkaufszentren als surreale Auswüchse des neuen Kapitalismus erlebt haben, in dem die Käufer*innen selbst zu Insekten im Angesicht eines alles umfassenden Konsumbedürfnisses degradiert werden.
Der Kühlschrank erzählt wunderbar atmosphärisch von einem Sommertag, dessen Hitze durch die Seiten hindurch geradezu spürbar ist. Es geht um Besitz und Konsum und um die Großmutter, deren Kühlschrank ausgerechnet bei diesen Temperaturen kaputtgeht. Der letzte Abschnitt fasst zusammen, was sich in den Jahren danach verändert, wie sich die Stadt selbst verändert – das ist zwar interessant zu lesen, wirkt hier aber wie eine angehängte Fußnote, die allzu plakativ auf kapitalistische Interessen und aufkommenden Tourismus zeigt.
Endlos handelt von den Schwierigkeiten der Mutterschaft: Der Hochglanz-Vorstellung aus den Ratgebern und Prospekten wird die harte, schmerzhafte Realität gegenübergestellt. Eindrucksvoll prallen die beiden Ebenen aufeinander: Während sich in der Wohnung der Protagonistin die Wasserflaschen mit Feelgood-Sprüchen stapeln und ihr Umfeld ihr versichert, dass ihre Kinder sich ganz normal entwickeln, hadert sie mit ihrer Mutterrolle und vor allem mit dem Stillen. Ihr Körper verkommt zu einer reinen Milchfabrik, verwandelt sich in einen mechanischen Gegenstand, der in einer Endlosschleife gefangen scheint. Dieser Text ist schwer zu ertragen, aber darin liegt auch seine Stärke. Am Ende gelingt der Protagonistin, von ihrem Umfeld in mehrerlei Hinsicht allein gelassen, jedoch zum Glück der Ausbruch aus diesem Teufelskreis.
In Puppen aus Tschernobyl entwickelt eine verwöhnte Vierjährige einen ungewöhnlichen Wunsch: Sie möchte unbedingt die Puppen haben, die sie im Fernsehen gesehen hat – in einer Dokumentation über Tschernobyl. Es entbrennt ein regelrecht gewaltsamer Kampf mit den Eltern, der ebenso absurd wie tragikomisch ist. Das Mädchen, das es gewohnt ist, alles zu bekommen, was es haben will, kann nicht begreifen, dass es die radioaktiv verseuchten und halb zerfallenen Puppen aus der ukrainischen Geisterstadt nicht haben kann. Das Ende war absehbar und zeigt eine allzu klare Moral der Geschichte auf, die nichts Neues ist. Dennoch mag ich die Geschichte wegen ihres bizarren und sehr speziellen Szenarios.
Druckerschwärze erzählt von zwei Journalisten, die auf einer malerischen Insel eine Reportage über den dortigen Leuchtturmwärter anfertigen sollen. Das Paradies bekommt jedoch Risse: Während der Leuchtturmwärter klischeehafte Floskeln über seine Verbundenheit mit dem Meer herunterbetet, wird immer deutlicher, mit welcher Verachtung er seine Frau behandelt. Und am Horizont zieht ein Sturm auf. Ich mag die Kontraste in dieser Geschichte und die Abgründe, die sich hinter einem vermeintlich harmonischen Ort auftun.
Konsumieren lässt eine geradezu apokalyptische, Horrorfilm-artige Atmosphäre vor und in einem Supermarkt entstehen. Ich finde es faszinierend, wie diese Szenerie als unheimlich dargestellt wird, obwohl ihr objektiv gar nichts Gruseliges anhaftet. Andererseits irritiert mich der Text genau deshalb auch.
In Käfer sind fast wie Menschen möchte die Hauptfigur nach dem Tod ihres Mannes endlich den alten Krempel in ihrer Wohnung loswerden und sie in luftig-hellem schwedischem Stil ausstatten. Im IKEA kollidiert die verheißungsvolle Werbe-Welt jedoch mit ihren Gedanken an den Tod und die Vergangenheit. Ich mag diesen Kontrast von Altem und Neuem, von düsteren Gedanken und einer im Möbelhaus vermittelten Sorglosigkeit.
Meine Lieblingsgeschichte ist aber die letzte: Erlebensfall. Darin lässt der Protagonist sich von einem alten Schulfreund einen Bank-Termin aufschwatzen, bei dem ihm eine Lebensversicherung verkauft werden soll. Was wie ein langweiliger bürokratischer Vorgang klingt, entwickelt sich jedoch zu einem surrealen Albtraum, in dem die im Vertrag aufgelisteten Todesarten überdeutlich hervortreten. Die Bank verwandelt sich in ein Labyrinth, der Protagonist verkommt zum Objekt der Bankberater*innen, die ihn scheinbar willenlos auf einem Stuhl durch die Filiale schieben. Das Ende dazu fand ich sehr passend, und es bildet auch einen gelungenen Abschluss für das gesamte Buch.
4/5 kaufenden Käfern