Kurzmeinung: Ein unglaublich stark geschriebenes Buch über Frauen, die genug haben.
Inhaltshinweis: Im Buch und in dieser Rezension werden u.a. Suizid, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen und misogyne Gewalt thematisiert.
Eines Tages steht Helene von ihrem Stuhl auf und springt vom Balkon. Ihr Mann und ihre drei Kinder bleiben geschockt am Abendbrottisch zurück. Es gibt keine Warnzeichen, keine Erklärung, keinen Abschiedsbrief. Nur eine unerträgliche Leerstelle, die sie hinterlässt.
Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive von Helenes bester Freundin Sarah und Helenes vierzehnjähriger Tochter Lola erzählt, die beide sehr unterschiedlich mit diesem Schmerz umgehen. Während Lola ihre Wut zunächst in Selbstverletzung und schließlich in Kampfsport kanalisiert, übernimmt Sarah wie selbstverständlich Helenes Rolle und kümmert sich um Lolas kleine Brüder und den Haushalt. Schnell wird klar, dass es nicht vor allem Helene als Mensch ist, die fehlt, sondern vielmehr Helene in ihrer Rolle als Fürsorge-Geberin.
Zuallererst finde ich dieses Buch beeindruckend gut geschrieben. Der Schmerz, die Wut, die Hoffnung – all das wird mit einer klaren Sprache transportiert, die gleichzeitig etwas Poetisches an sich hat, etwas Bewegendes. Ein Schreibstil, bei dem ich das Gefühl habe: Da sitzt jedes Wort an der richtigen Stelle.
Das zeigt sich auch in den subtilen sprachlichen Unterschieden zwischen den Parts von Sarah und Lola: So benutzt Lola geschlechtsneutrale Bezeichnungen, während Sarah zum generischen Maskulinum neigt. Das ist nur ein kleines Detail, aber es versinnbildlicht den interessanten Kontrast zwischen den beiden Frauen, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorstellungen von Feminismus immer wieder miteinander streiten.
Das liebe ich an diesem Buch: Dass unterschiedliche Sichten gleichberechtigt existieren, die von der Lebenserfahrung der jeweiligen Person geprägt sind, und dass eine Auseinandersetzung damit stattfindet, ein Voneinander-Lernen. Die Figuren reflektieren ihr Verhalten im bestehenden patriarchalen System und wie es dort hineinpasst: Beispielsweise übernimmt Sarah vermeintlich freiwillig die Betreuung von Helenes Kindern, reflektiert aber später, dass sie auch Helenes Mann damit in die Pflicht hätte nehmen können – und das nur deshalb nicht getan hat, weil sie automatisch davon ausgegangen ist, dass ein Mann das eben nicht allein stemmen kann. Aber sie, eine kinderlose Frau, ist besser dafür geeignet? Weil sie eine Frau ist? Weil sie einen angeborenen Mutterinstinkt hat?
Die Überlegungen der Figuren zum Thema Patriarchat und ungerechter Verteilung von Sorgearbeit sind konkret, drängen sich aber nicht auf und lassen Platz für eigene Gedanken. Ich würde nicht so weit gehen und die Figuren als unzuverlässige Erzählerinnen bezeichnen, aber sie sind angenehm menschlich und fehlbar. So hat Lola als gut informierte Feministin ein schlechtes Gewissen, weil sie Helene vor allem in ihrer Funktion als Mutter vermisst und weil sie nicht eher erkannt hat, dass sie ihr vielleicht mehr Arbeit hätte abnehmen können. Das lädt zum Nachdenken darüber ein, ob es wirklich die Aufgabe einer Vierzehnjährigen sein kann, ihre Mutter nicht nur als Mutter zu sehen und zu erkennen, mit welchen Arbeiten sie überlastet ist und ihr diese abzunehmen. Ob Helenes Mann sich solche Gedanken überhaupt macht. Ob ein gleichaltriger Sohn sich auch solche Gedanken machen würde wie Lola.
Zur Fehlbarkeit und Menschlichkeit gehört auch, dass die Figuren in ihren Widersprüchen existieren können. So ist Sarah schnell überfordert davon, sich um Helenes Söhne im Kindergartenalter zu kümmern und wünscht sich manchmal sehnlichst aus dieser Situation heraus. Andererseits liebt sie die Kinder auch und fühlt eine Verbundenheit zu ihnen, die sie vorher noch nicht erlebt hat. Ähnlich sieht es in der Beziehung zu ihrem Freund Leon aus: Sie hält an ihm fest, obwohl er sich offensichtlich nicht wirklich für sie interessiert und sie nur im Geflecht heteronormativer Erwartungen gefangen hält.
Das ist natürlich ein wichtiges Thema, die Ausführungen dazu haben mich persönlich aber etwas gelangweilt und zu einigen are the straights okay-Momenten geführt. Der Klappentext verspricht zwar, es gehe in diesem Roman darum, „was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein“, aber tatsächlich geht es vordergründig darum, was es heißt, in unserer Gesellschaft heterosexuelle cis Frau zu sein. Das ist keine Kritik am Buch, ich möchte an der Stelle nur darauf aufmerksam machen, dass es auch andere weibliche Lebensrealitäten gibt. (Und als queere Frau bin ich auch einfach kein Fan von verallgemeinerten Aussagen über die Bedeutung des Frau-seins.)
Deshalb mochte ich Lolas Part lieber, denn dort spielt am Rande auch lesbisches Begehren eine Rolle, und es wird auch etwas allgemeingültiger: Lola muss sich gezwungenermaßen mit patriarchalen Erwartungen und misogyner Gewalt auseinandersetzen. Während sie anfangs nach dem Tod ihrer Mutter unter Appetitlosigkeit leidet und ihre dadurch entstandene Schlankheit geil findet, entzieht sie sich später bewusst dem Schönheitsideal zugunsten körperlicher Stärke und Standhaftigkeit. Das finde ich (im wahrsten Sinne des Wortes) sehr stark!
Ebenso das Empowerment, das sie durch eine Gruppe von Freundinnen im Kampfsport-Training erfährt. Und die Gruppe geht noch weiter: Sie fangen an, nachts Männer zusammenzuschlagen, die Frauen vergewaltigt und misshandelt haben, ohne dafür jemals Konsequenzen erfahren zu haben. Jetzt sind sie selbst diese Konsequenz, wollen zurückschlagen, wollen sich kollektiv keine männliche Gewalt mehr gefallen lassen.
Interessante Selbstbeobachtung: Am Ende habe ich instinktiv eine Relativierung oder Erkenntnis erwartet, eine Einsicht, dass Gewalt keine Lösung ist. Aber – kleiner Spoiler – die gibt es nicht. Und das finde ich gut so! Wie viele Geschichten gibt es über männliche Selbstjustiz, bei denen nie irgendwer auf die Idee kommen würde, eine Distanzierung zu verlangen?
Neben allem anderen enthält dieser Roman auch ein Stück Pandemie-Geschichte, denn er spielt vor dem Hintergrund der Corona-Lockdowns. Die Pandemie steht nicht im Vordergrund, sie ist eher ein stetiges Hintergrundrauschen, das gesellschaftliche Dynamiken noch stärker hervortreten lässt. Dabei schafft dieses Buch etwas, das die meisten Ausführungen zum Thema „Pandemie-Aufarbeitung“ nicht schaffen: Die negativen Auswirkungen der Lockdowns aufzuzeigen, ohne in Corona-Verharmlosung zu verfallen. Stattdessen geht es z.B. um fehlende Unterstützung seitens des Staates in dieser Zeit, insbesondere für Familien mit Kindern.
Am Ende geht es vor allem um Hoffnung. Um Solidarität zwischen Frauen, um bedingungslose gegenseitige Unterstützung und darum, für sich selbst einzustehen, auch wenn es tief verinnerlichten gesellschaftlichen Erwartungen widerspricht. Ein tolles Buch!