Kurzmeinung: Solides und spannendes Prequel, auch wenn es nicht an die Qualität der originalen Panem-Trilogie heranreicht.
(Spoiler-frei bis zum Spoiler-Hinweis)
Eigentlich wollte ich dieses Buch erst gar nicht lesen. Meine Panem-Begeisterung war schon zu lange her, ich empfand die originale Trilogie als ein abgeschlossenes Werk, das keiner Fortsetzung oder Spin-Offs bedarf, und die Vergangenheit von Präsident Snow interessierte mich erst recht nicht. Noch dazu wurde das Ganze wie eine Bad Boy-Romanze vermarktet, das ist gar nicht mein Ding und passt für mich auch überhaupt nicht zum Panem-Kosmos.
Aber nachdem ich die originale Trilogie noch einmal gelesen und festgestellt hatte, dass sie erstaunlich gut gealtert ist, wollte ich diesem Buch eine Chance geben. Denn wenn es Suzanne Collins nur darum gegangen wäre, die Panem-Kuh finanziell zu melken, dann hätte sie sich mit einem Prequel keine zehn Jahre Zeit gelassen.
Die Handlung dieses 600-Seiten-Wälzers ist schnell zusammengefasst: Es ist das Jahr der 10. Hungerspiele, Coriolanus Snow steht kurz vor seinem Schulabschluss und verbringt seine Zeit vor allem damit, die Tatsache zu verbergen, dass seine ehemals einflussreiche Familie mittlerweile verarmt ist. Dann bietet sich ihm eine einmalige Gelegenheit: Zum ersten Mal sollen Schüler*innen seiner Akademie den Tributen als Mentor*innen zur Seite gestellt werden. Zunächst ist er enttäuscht darüber, dass er ausgerechnet dem Mädchen aus Distrikt 12, Lucy Gray Baird, zugeteilt wird. Aber die Aussicht auf ein Stipendium bringt ihn dazu, sie so gut es geht zu unterstützen. Und dabei verliebt er sich in sie …
Über Stilistisches brauchen wir hier gar nicht reden – Suzanne Collins könnte eine Anleitung zur Grünflächenbewässerung schreiben und ich würde es spannend finden. Ich konzentriere mich deshalb auf den Inhalt:
Wie gesagt, die Hintergrundgeschichte von Präsident Snow interessiert mich nicht die Bohne. Ich bin sogar der Meinung, dass sie ihm – wie vielen anderen Antagonist*innen auch – etwas von seiner Bedrohlichkeit nimmt. Aber ich habe trotzdem versucht, mich darauf einzulassen.
Ich hatte gehofft, dass er nicht nur als ein unsicherer, armer Kerl dargestellt wird, der seinen äußeren Umständen unterworfen ist und eigentlich gar nichts für gar nichts kann. Genau so sieht es am Anfang aber aus. Wenn da nicht die subtilen Andeutungen wären, die seine kühle, berechnende Art hindurchschimmern lassen und die Momente, in denen Situationen gegenübergestellt werden, die ungleicher nicht sein könnten: Die Tribute sterben in der Arena, aber Coriolanus ist der Meinung, dass er es gerade am schwersten habe, weil seine Familie die Steuern auf seine Penthouse-Wohnung bald nicht mehr wird bezahlen können.
Er ist kein Sympathieträger, aber auch kein eiskalter Psychopath. Insofern eine gelungene Balance, allerdings hat mich sein ständiges Selbstmitleid irgendwann gelangweilt. Ohne das wäre das Buch bestimmt 100 Seiten kürzer gewesen.
In der Original-Trilogie mochte ich die klare Zeichnung der Figuren und ihren hohen Wiedererkennungswert, auch wenn es nur Nebencharaktere waren. Das hat mir hier leider gefehlt. Es werden viele Namen erwähnt, aber die dazugehörigen Figuren bleiben oft blass; manchmal musste ich zurückblättern, weil ich mich gefragt habe: Moment, wer war denn das nochmal? Vor allem Coriolanus’ viele Mitschüler*innen bleiben sehr farblos, und irgendwann habe ich es aufgegeben, nachvollziehen zu wollen, wer jetzt eigentlich wer ist.
Das soll nicht heißen, dass es keine interessanten und komplexen Figuren gibt, nur beschränken die sich hier auf die wichtigeren Rollen. Da ist zum Beispiel Sejanus, der eigentlich aus Distrikt 2 kommt, aber dank seines reichen Vaters jetzt im Kapitol wohl und ständig mit seinen Loyalitäten hadert. Oder meine Lieblingsfigur, Dr. Gaul, die ich mit ihrer herrlich fiesen und verschrobenen Art sehr genial finde. Ich kann gut nachvollziehen, wie der junge Coriolanus ihre ‚Weisheiten‘ aufsaugt und von ihnen geformt wird, auch wenn er sich das zu dieser Zeit noch nicht eingestehen will.
In jedes Prequel gehört natürlich eine ordentliche Portion Foreshadowing auf die Ereignisse des Originals. Das wirkt in meinen Augen nur selten nicht verkrampft, und auch hier erscheint es mir stellenweise sehr dick aufgetragen. Dass im Kapitol alle Menschen in gehobenen Positionen nepo babies sind, sollte keine Überraschung sein, aber hier ständig Heavensbees und Flickermans zu begegnen, wirkt schon arg angestrengt. Die Krönung des Ganzen ist, dass Coriolanus und seine Großmutter immer wieder darüber sinnieren, wie es wohl wäre, wenn er mal Präsident werden würde. Zusätzlich werden Fragen beantwortet, die mich mehr oder minder interessieren. Zum Beispiel ist es mir relativ egal, wie es dazu kam, dass Sponsor*innen den Tributen Essen in die Arena schicken dürfen. Interessanter finde ich die Entstehungsgeschichte des Hanging Tree-Liedes.
Trotz aller Kritik mag ich die Darstellung Panems als junger Staat. Alles ist noch ein bisschen wackelig, die Erinnerungen an den Krieg sind noch frisch, die Hungerspiele noch unpopulär – die meisten Menschen wollen sie sich gar nicht ansehen. Es wird noch viel diskutiert darüber, wie die Gesellschaft aussehen soll und was sie braucht; moralische Kritik an den Hungerspielen wird noch geäußert und hingenommen. Das Ganze kommt mir aber oft recht zäh vor: Wenn zum Beispiel die Tribute aus den Distrikten von den Kapitol-Menschen abfällig als Tiere bezeichnet werden, findet sich garantiert eine Figur, die entgegnet, dass diese Aussage nicht okay sei. So geht es ständig hin und her, auch in Corionalus’ eigenen Gedanken. Und das zieht sich echt.
Coriolanus ist auch die ganze Zeit hin- und hergerissen, ob er Lucy Gray nun so tatkräftig unterstützt, weil er unbedingt das Stipendium haben will, das mit ihrem Sieg bei den Hungerspielen für ihn herausspringen würde, oder weil er sie wirklich mag. Auch das finde ich ziemlich uninteressant, aber einen subtilen Aspekt finde ich doch spannend: Selbst als er zu dem Schluss kommt, dass er sie wirklich liebt, und er sie im Gegensatz zu vielen anderen Kapitolbewohner*innen nie direkt entmenschlicht, behandelt er sie doch gedanklich wie seinen Besitz. Sehr bezeichnend für den Charakter des späteren Präsidenten.
Ab hier: Spoiler!
Dass Lucy Gray die Hungerspiele schon nach 400 Seiten gewinnt, hat mich überrascht. Meiner Erfahrung nach ist es kein gutes Zeichen, wenn die Figuren ihr Ziel schon mitten im Buch erreichen, die Geschichte danach aber noch eine ganze Weile weitergeht. Zum Glück ist das hier aber nicht irgendein Buch von irgendeiner Autorin – die letzten 200 Seiten sind nicht nur angehängtes schmückendes Beiwerk, sondern im Gegenteil ein großer Bestandteil von Coriolanus’ Charakterentwicklung hin zu dem skrupellosen Präsidenten, als den wir ihn kennen.
Am Ende legt er noch einmal eine 180-Grad-Wende hin, zumindest auf den ersten Blick – auf den zweiten Blick ist es jedoch eine logische Konsequenz seiner bisherigen Entwicklung: Erst noch bestrebt, mit Lucy Gray gemeinsam in die Wildnis zu fliehen, würde er sie nach einer kleinen Änderung der Umstände lieber töten, als auf eine Machtposition in Panem zu verzichten. Dass es für die Beiden kein kitschiges Happy End geben konnte, war mir im Hinblick auf die Original-Trilogie eigentlich klar, dennoch finde ich es toll, wie hier der Bogen gespannt wurde von einem verliebten, mitfühlenden Coriolanus zu einem kühlen, berechnenden Snow. Auch der Twist am Ende, als Dr. Gaul ihm eröffnet, sein Ausflug nach Distrikt 12 sei von Anfang an nur als Sommerferien-Beschäftigung für ihn gedacht gewesen, gibt seiner Beziehung zu Lucy Gray noch mal eine ganz andere Dimension. Was ihm eben noch wie sein Leben und seine Zukunft erschien, wird rückblickend zu einer flüchtigen Sommer-Romanze, die im Hinblick auf seine zukünftige Karriere wenig Bedeutung hat.
Ich mag es auch, dass Lucy Grays Schicksal offen bleibt – wir wissen nicht, was mit ihr passiert ist, ob Coriolanus’ Kugeln sie tödlich verletzt haben oder ob sie überlebt und danach noch ein langes Leben geführt hat. Das lässt Raum für Spekulationen, von denen es in den Weiten des Internets genügend gibt: Lucy Gray ist Katniss’ Großmutter, Lucy Gray ist Alma Coin … Ich finde es gut, dass das Buch keine dieser Theorien unterstützt, denn spätestens seit dem letzten Star Wars-Film habe ich wirklich genug von ‚Diese zwei Figuren sind übrigens miteinander verwandt‘-Twists.
Insofern ein sehr gelungenes Ende, mit einer guten Vorausdeutung auf das, was aus Snow (ja, den Namenswechsel von Coriolanus zu Snow im Erzähltext des Epilogs fand ich auch sehr genial) später einmal werden wird.
Ein paar Worte zur Übersetzung
Ich habe dieses Buch auf Deutsch gelesen, weil ich die Trilogie sowohl als Teenager als auch bei meinem Re-Read dieses Jahr auch auf Deutsch gelesen habe. Die Trilogie ist meiner Meinung nach fantastisch übersetzt, denn an keiner Stelle hatte ich das Gefühl, die englischen Originalformulierungen ‚durchschimmern‘ zu sehen (also mir zu denken: ‚Hm, das klingt auf Deutsch ein bisschen seltsam, im Englischen war das bestimmt mit diesem-und-jenem Wortlaut formuliert‘). In diesem Buch war das leider öfters der Fall, wobei ich auch zugeben muss, dass einige Wortspiele wirklich fies zu übersetzen waren (Stichwort: „Snow landet immer oben“).
Fazit
Ein solides Prequel zur Panem-Trilogie, das auf gelungene Weise mit Nuancen arbeitet und auch noch eine spannende Geschichte erzählt. Ich sehe es allerdings nicht als ein „Muss“ an – wer sich gar nicht für die Vorgeschichte von Präsident Snow und die Geschichte Panems interessiert, kann dieses Buch auch getrost überspringen.
4/5 Spotttölpeln