Das Buch Rattenauge von Selma J. Spieweg: Auf dem Cover ist eine Schar von Ratten abgebildet, die sich nach unten hin aus einer schwarzen Masse herauszulösen scheinen.

Kurzmeinung: Ein ungewöhnliches und surreales Buch, das mit seinen Kuriositäten leider ziemlich überladen ist.


Eins vorweg, ich mag ungewöhnliche Bücher. Ich mag Bücher, die sich trauen, Geschichten abseits der ausgetretenen Pfade und auf unkonventionelle Weise zu erzählen. Ich mag surreale, vielschichtige Geschichten, ich mag verschrobene Figuren voller Gegensätze, deren Wege sich auf ungewöhnlichste Weise kreuzen.

All das beinhaltet dieses Buch. Es ist eine Collage aus den Erlebnissen verschiedenster Menschen, Fetzen von Märchen und Wahnvorstellungen, die stetig ineinander laufen. Für jede Figur sehen die Geschehnisse anders aus: Was beispielsweise für Irina der dunkle Turm des grauenvollen Froschkönigs ist, ist in Wirklichkeit ein Forschungsinstitut, in dem ein Wissenschaftler einiges zu verbergen hat.

Dieses Buch hat nicht nur einen doppelten Boden, sondern mindestens einen dreifachen oder vierfachen Boden: Ereignisse haben mehrere Bedeutungen, Symboliken wiederholen sich in unterschiedlichen Kontexten, Landschaften und Leben verformen sich stetig. Immer wieder kreuzen sich die Wege der Handelnden, sind auf unterschiedlichste und märchenhafte Weise miteinander verwoben. Sie alle quälen Wahnvorstellungen – oder sind es tatsächlich finstere Mächte aus der Welt der Märchen?

Das ist leider einer meiner größten Kritikpunkte an diesem Buch: Es werden am laufenden Band Fragen aufgeworfen und kaum welche beantwortet. Ein bizarres Ereignis reiht sich ans nächste, Realitäten werden hinterfragt, einmal etablierte Personen und Tiere scheinen plötzlich überhaupt nicht zu existieren. Es werden so viele unterschiedliche Handlungsstränge ausgelegt, dass es mir schwergefallen ist, den Überblick zu behalten. Isoliert betrachtet könnten Ereignisse aus dieser Geschichte sehr spannend sein, aber dadurch, dass hier wirklich am laufenden Band abgedrehte und surreale Dinge passieren, verlieren Einzelheiten an Gewicht. Im letzten Drittel des Buches dachte ich mir nur immer wieder: Ach, jetzt ist also wieder was Seltsames passiert, na ja, das kennt man ja schon.

Außerdem sind die Sprünge zwischen den Perspektiven so schnell und so häufig gesetzt, dass ich kaum Zeit hatte, mich auf eine Figur einzulassen und dadurch auch im Laufe der Geschichte mit keiner von ihnen so wirklich warm wurde – obwohl sie an sich ganz interessant sind. Das mag auch damit zu tun haben, dass manche von ihnen über mehrere Kapitel hinweg völlig in Vergessenheit geraten, bevor ihre Szene dann dort weitergeht, wo sie am letzten Punkt aufgehört hat.

Immer wieder sind zwischen den Perspektivwechseln Fetzen von Märchen eingestreut, die ungewöhnlich formatiert sind, der Text verläuft dann zum Beispiel in Wellenform, das fand ich sehr ansprechend. Dennoch empfand ich das alles – vor allem am Anfang des Buches – als ziemlich anstrengend: Die ständigen Perspektivwechsel, die Vermischung von Realität, Wahn und Fiktion, und dazwischen noch die Märchenschnipsel. Mit Fortschreiten der Geschichte wird es etwas besser, denn sie hat schon einen roten Faden, den ich auch ziemlich spannend fand, wobei ich aber auch immer wieder das Gefühl hatte, ihn zwischen all dem unruhigen Drumherum aus den Augen zu verlieren.

Es folgt eine Kritik zum Ende (Spoiler):

Die Geschichte hört einfach auf. Ohne, dass wirklich etwas aufgeklärt wird. Im Laufe des Buches wurden zwar einige Geheimnisse enthüllt und einige Verbindungen geschlagen, aber am Ende bleibt trotzdem alles sehr vage. Wer ist denn nun die mysteriöse Schattengestalt? Was genau ist mit den Kindern passiert? Was ist mit Gideon Renger, der sich aus dem Nichts heraus plötzlich als Geist entpuppt hat und gar nicht existiert? Das sind nur einige Fragen, die offen geblieben sind. Gerade letztere steht symbolhaft für den Eindruck, den die Geschichte in ihrer Gesamtheit auf mich hinterlässt. Und das ist die Frage: Und was sollte das nun? Warum eine Figur etablieren, nur um dann am Ende als einen von vielen Plot Twists einzubauen, dass sie gar nicht existiert? Welche Rolle spielt Patrik, der das ganze Buch lang eigentlich nur auf einer Stelle gesessen und nichts getan hat, über den wir kaum etwas erfahren haben, dessen Fragen bis zum Ende unbeantwortet geblieben sind? Was ist mit Katharina, die scheinbar nur existierte, um verloren zu gehen?

Ehrlich gesagt fühle ich mich am Ende nicht viel schlauer als nach dem ersten Kapitel. Die meisten Figuren scheinen nur dafür zu existieren, um entweder verloren zu gehen oder mitten in der Handlung hängen gelassen zu werden. Einzig Irina, die sowas wie eine Hauptfigur ist (aber auch sie wird zwischendrin eine Weile vernachlässigt), zieht sich als aktive Konstante durch die ganze Handlung. Sie ist auch die Einzige, für die ich wegen ihrer verschrobenen Art so etwas wie Sympathie aufbringen konnte.


Insgesamt eine spannende Idee in einer sehr unkonventionellen Umsetzung, die mich am Ende aber durch ihre überladene Handlung und eine unbefriedigende Auflösung eher nicht überzeugen konnte.

Das Buch ist allerdings schon ein Lesen wert für Menschen, die gern etwas Ungewöhnliches weitab vom Mainstream lesen wollen und dabei auch Themen rund um den Tod von Kindern ertragen können.

3/5 Ratten

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