Kurzmeinung: Eine spannende Fortsetzung von Der Report der Magd, die ganz neue Einblicke in das totalitäre System von Gilead gibt.
Über dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Der Report der Magd erzählt Die Zeuginnen eine weitere Geschichte aus dem fiktiven totalitären Gottesstaat Gilead, in dem Frauen unterdrückt werden und strengen Regeln und Rollen zu folgen haben. Dieses Mal stehen jedoch nicht die Mägde im Zentrum, deren einzige Aufgabe es ist, Kinder zu gebären. Sondern die Tanten, eine Art Aufseherinnen, die – in begrenztem Rahmen – Herrschaft über die restlichen Frauen ausüben und die Zugang zu normalerweise männlichen Privilegien haben, wie die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben. Die Tanten fand ich schon im Report der Magd sehr faszinierend, denn sie werfen interessante Fragen darüber auf, warum und unter welchen Umständen sich Menschen gegen ihresgleichen wenden, um ihre eigene Machtposition zu sichern – oder um einfach nur zu überleben.
Der Roman wird abwechselnd aus drei Perspektiven erzählt: Zum einen von Tante Lydia, eine der ersten Tanten überhaupt, eine der Mitbegründerinnen des grausamen Systems und gleichzeitig eine Frau, die ihr eigenes ausgeklügeltes Spiel spielt. Früher eine respektierte Familienrichterin, wird sie nach der Errichtung des Staates Gilead wie alle anderen intelligenten und gebildeten Frauen als eine Bedrohung angesehen, und muss sich entscheiden: Sterben oder fortan auf der Seite des Unterdrückers agieren? Ich finde es sehr faszinierend, wie sie sich von Anfang an vornimmt, auf lange Sicht zu spielen. Sie trifft enorm viele grausame Entscheidungen gegen andere Frauen und erarbeitet sich so den Ruf der gefürchteten Tante – nur um im Inneren den Fall von Gilead vorzubereiten. Waren all diese Opfer notwendig? Sind sie verzeihbar? Hätte sie anders handeln können? Hätte die Geschichte dann einen besseren Ausgang genommen? Mit diesen und mehr spannenden Fragen lassen mich ihre Ausführungen zurück.
Dann haben wir die Sicht von Agnes, die interessante Einblicke in das Leben und Aufwachsen in Gilead gibt. Als sie im Alter von dreizehn Jahren gegen ihren Willen einen viel älteren, mächtigen Mann heiraten soll, wird ihr ein Ausweg aus dieser Zwangslage aufgezeigt: Wenn sie Tante wird, muss sie nicht heiraten. Also wählt sie diesen Weg und spielt so direkt Tante Lydias größeren Plänen in die Hände.
Zuletzt gibt es noch die Sicht von Daisy, die bei ihren Adoptiveltern in Kanada lebt und Gilead nur aus dem Fernsehen kennt. Auch diese Perspektive finde ich sehr interessant, denn oft zeigen Dystopien nur die Zustände im eigenen Land; die Außenperspektive wird meist ausgeblendet. So gibt es hier eine Erzählfigur, die nicht selbst in Gilead lebt, sondern aus der Ferne auf die Absurdität dieses totalitären Staates blickt.
Diese drei Perspektiven werden zum Ende hin elegant zusammengeführt; allerdings war das Lesen am Anfang oft recht mühsam, denn dort sahen die Leben der drei Figuren noch sehr unterschiedlich aus. Kaum hatte ich mich in einen Erzählstrang vertieft und wollte mehr erfahren, wurde die Perspektive auch schon wieder gewechselt und eine völlig andere Geschichte weitererzählt. Zu dieser Frustration hat auch die Tatsache beigetragen, dass diese sehr unterschiedlichen Frauen sprachlich annähernd gleich klingen. Sie alle nutzen die Ich-Perspektive und einen ähnlichen Erzählstil. Zwar werden Unterschiede deutlich, als Dialoge von ihrem Zusammentreffen widergegeben werden. Die Aufzeichnungen der respekteinflößende ältere Tante aus Gilead klingen jedoch fast genauso wie die Aussagen der Frau, die zu dieser Zeit eine aufmüpfige Sechzehnjährige aus dem freien Staat Kanada war.
Ansonsten finde ich die Geschichte aber sehr gut erzählt und habe mich gern von ihr mitreißen lassen. Bei vielen Büchern, die länger als 300 Seiten sind, habe ich etwas an Langatmigkeit zu bemeckern; hier jedoch habe ich das Gefühl, dass das Buch wirklich seine knapp 600 Seiten gebraucht hat, um die Geschichte mit der gebotenen Tiefe zu erzählen. Das ist auch mal was Seltenes.
Die Art, wie Geschlecht in diesem Roman behandelt wird, ist natürlich streng binär und bioessentialistisch. Genau das ist es auch, was das System aufrecht erhält; es duldet keine Abweichungen von einer vermeintlich biologisch vorgegebenen Gesellschaftsordnung. Das macht die Gedanken über Geschlecht innerhalb dieser Gesellschaft umso interessanter. Beispielsweise denkt Agnes als Kind an einer Stelle darüber nach, dass die Tanten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Sonderposition wahrscheinlich weder männlich noch weiblich sind.
Insgesamt ein toller Roman, dem ich seine fast 600 Seiten nicht angemerkt habe und der keineswegs ein Cashgrab-Anhängsel an seinen Vorgänger ist, sondern noch einmal tiefer in die Gesellschaft von Gilead eintaucht und eine ganz eigene Geschichte erzählt.