Das Buch "Wie ich lernte, den Fluss zu lieben" von Laura Vinogradova. Der Hintergrund ist zum Teil braun, zum Teil cremefarben, in der Mitte befindet sich das kleine Foto eines Flusses, darunter der Titel des Buches.

Kurzmeinung: In den wenigen Briefen an die verschwundene Schwester liegt eine Tiefe, die der Rest des Buches vermissen lässt.


Rute flieht von ihrem gut ausgestatteten Stadtleben in ein einfaches Landhaus am Fluss. Sie hat es von ihrem Vater geerbt, den sie nie kennen gelernt hat, und nun verbringt sie dort einen Sommer. Dabei lernt sie die Nachbarin Matilde und deren zwei kleine Kinder näher kennen und entwickelt Gefühle für Matildes Bruder, den Seemann Kristofs. Am Ende des Sommers fährt sie wieder zurück in die Stadt zu ihrem Ehemann und besucht ihre Mutter im Gefängnis, aber irgendwann kehrt sie zum Haus am Fluss zurück. Das ist eigentlich schon die Handlung der Geschichte. Und genauso einfach wie diese Zusammenfassung liest sich eigentlich das ganze Buch.

Ich kann nicht mal sagen, dass mir das Buch nicht gefallen hat. Ich kann aber auch nicht wirklich sagen, dass es mir gefallen hat. Es befindet sich in einem seltsamen Dazwischen, das man wohl fast Bedeutungslosigkeit nennen muss.

Zu allererst liegt das wohl an der Kombination von Sprache und Handlung. Beides ist sehr einfach gehalten, der Stil nüchtern, die Erlebnisse und Gespräche alltäglich. Ich habe schon Bücher gelesen, in denen mit sehr wenigen Worten sehr viel gesagt wurde, in denen einfache Worte und kurze Sätze viel Gewicht tragen konnten. Das ist hier nicht der Fall. Selbst die Entführung von Rutes Schwester Dina im Prolog wird so unspektakulär beschrieben, als würde Dina jeden Tag ein Sack über den Kopf gestülpt und sie in einen Transporter geworfen.

Der Verlust der Schwester ist auch das, was Rute ständig begleitet. Selbst über zehn Jahre nach ihrem spurlosen Verschwinden schreibt Rute ihr noch Briefe, die nie abgeschickt werden. In diesen Briefen, die an die Kapitel aus Rutes Sicht angehängt sind, liegt meiner Meinung nach die eigentliche Stärke und das herausstechende Element in diesem Buch. Nur hier wird es sprachlich ansprechend, nur hier fühle ich die Trauer und den Schmerz, der im Rest der Geschichte oberflächlich bleibt. Dadurch, dass ich aber von Anfang an weiß, dass Rute entführt und vermutlich ermordet worden ist, wird den Briefen einiges an Stärke genommen.

Ab hier: Spoiler für das gesamte Buch.

Vielleicht ist es die Krimi-Leserin in mir, die nach einer gewaltsamen Entführung irgendeine Art von Konsequenz erwartet hat, aber die gibt es nicht. Dina taucht nicht mehr auf, das Verbrechen bleibt ungesühnt, und niemand außer ihr erfährt, dass es die Entführung überhaupt gegeben hat. Für Rute, die für den Großteil der Zeit die Perspektivfigur des Romans ist, ist Dina einfach eines Tages auf dem Nachhauseweg verschwunden. Es ergibt für mich als lesende Person nicht wirklich Sinn, dass ich die ganze Zeit über weiß, was mit Dina passiert ist, während Rute darüber nie Klarheit erhalten wird. Den Tod ihrer Schwester trotz dieser Ungewissheit anzunehmen und zu akzeptieren, ist immerhin der wichtigste Punkt am Ende dieser Geschichte.

Generell wird erst am Ende klar, dass es eigentlich die ganze Zeit um Trauerbewältigung ging – als Rute ihrer Schwester schreibt, dass sie sie für tot hat erklären lassen und jetzt leben geht. Davor wirkt vieles, was Rute tut, irgendwie ziellos und unnachvollziehbar. Aber vielleicht ist es auch das, was das Buch zu vermitteln versucht: Manchmal merken wir selbst nicht, wie sehr uns ein Verlust mitnimmt, bis wir einen Weg finden, damit abzuschließen.

Was ich nicht ganz verstanden habe, ist die Relevanz der Figur Kristofs. Einige Kapitel sind aus seiner Perspektive geschrieben und er berichtet von seinen Erfahrungen auf See und wie sie seinen Alltag beeinflussen. Das ist zwar ganz interessant zu lesen, aber mit der Protagonistin Rute hat das kaum etwas zu tun. Die Beiden nähern sich nur an, finden aber nicht zueinander.

Was mich auch irritiert hat, ist eine rassistische Passage auf Seite 22: Dort muss Kristofs auf dem Flughafen übernachten und sinniert darüber, dass die beiden muslimischen Frauen, die ihm gegenüber sitzen, ihn bestimmt im Schlaf bestehlen werden, und dass deren Männer dann sicher ganz stolz die Socken eines „weißen Riesen“ herumzeigen werden. Dieser Absatz hat weder für die Geschichte noch für die Figur irgendeine Relevanz und hätte genauso gut weggelassen werden können.

Eine Figur, die erst spät im Buch auftaucht, ist Rutes Mann Stefans. Davor erfährt man nicht, dass sie verheiratet ist. Überhaupt erfährt man wenig über sie; charakterlich bleibt sie recht blass. Stefans ist jedoch ganz liebenswert, denn er akzeptiert es, dass seine Frau einen ganzen Sommer lang verschwindet, ohne ihm zu sagen, wo sie sich aufhält, und sie danach wieder mit offenen Armen empfängt. Am Ende findet er sie am Fluss hinter dem Haus ihres verstorbenen Vaters, wo ihr endlich das gelingt, was sie in einer gemeinsamen Therapiesitzung nicht geschafft hat: Sie öffnet sich ihm und erzählt ihm, wo sie im Sommer gewesen ist und was sie dort erlebt hat. Das ist meiner Meinung nach die stärkste Szene in diesem Buch.

Die sichtbare Handlung ist zwar größtenteils ereignislos, wirkt aber stellenweise so konstruiert, als sei der Autorin eingefallen, dass sie ja noch irgendetwas Spannendes einbauen muss:

Rutes Mann wird zum Ende der Geschichte hin eines Abends auf der Straße überfallen, Rute kümmert sich um ihn, und die Sache spielt darüber hinaus keine Rolle mehr. Auf den letzten drei Seiten erfährt Kristofs, dass Rute verheiratet ist und bekommt daraufhin spontane Halluzinationen, infolge derer er das Haus von Rutes Vater anzündet. Dadurch kommt zwar ein rundes Ende zustande, in dem Rute die Tatsache des niedergebrannten Hauses nutzt, um mit ihrer Vergangenheit und ihrer Schwester abzuschließen, aber organisch wirkt das nicht.

Nach dem Lesen habe ich mir gedacht: Hm. Dies war ein Buch. Ein Buch mit ein paar Stärken und ein paar Schwächen. Es ist mit seinen 120 Seiten relativ dünn, deshalb: Kann man mal lesen – muss man aber nicht. Wer gerade ein bisschen Entschleunigung möchte und dabei auch etwas über Familie und Trauer lesen will, wird daran bestimmt Gefallen finden.

3/5 Häuschen am Fluss

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