Kurzmeinung: Melancholische Superhelden-Geschichte mit einer poetischen Kraft, von der es an einigen Stellen zu viel des Guten ist.
Ari und Mira sind Kinder, als ihre Eltern vor ihren Augen brutal ermordet werden. Das Trauma begleitet sie bis in ihr Erwachsenenleben hinein, auch wenn beide sehr unterschiedlich damit umgehen. Ihre Beziehung zueinander ist einfühlsam beschrieben; es entsteht keine typische flache „will they, won’t they“-Romanze, sondern ein komplexes Verhältnis, das von Liebe und Trauer geprägt ist: Einerseits können nur sie den Schmerz des jeweils anderen verstehen, andererseits erinnern sie sich durch ihre bloße Anwesenheit gegenseitig auch immer wieder an die Geschehnisse, die sie nicht vergessen können.
Die Trauer ist auf jeder Buchseite spürbar, manchmal durch einzelne Glücksmomente durchbrochen, aber im Hintergrund immer präsent. Mithilfe von wunderschön melancholischer Sprache werde ich in die Geschichte eines Sommers hineingezogen, der grausam enden musste. Und an dessen Ende steht der Herbstbringer, ein verkleideter Vigilante, der nachts Frauen vor Übergriffen rettet, der Polizei die Täter auf dem Silbertablett serviert und jedes Mal ein kristallenes Herbstblatt bei ihnen zurücklässt. Zwar gibt es einige Action-Szenen, die ich sehr spannend fand, aber die Geschichte lebt vor allem von einer ruhigen Grundstimmung, die in all der Trauer auch etwas Magisches in sich trägt. So wie auch die interessante Fähigkeit des Herbstbringers: Er kann Menschen in die Augen blicken und seine eigene Trauer auf sie übertragen, sodass sie danach jede Lebensfreude verlieren.
Zum Ende hin fand ich die Geschichte metaphorisch etwas überladen, was vielleicht an den häufigen Wiederholungen liegt, die sich mit der Zeit sprachlich abnutzen. Stellenweise hatte ich das Gefühl, die Autorin könne keine einzelne Handbewegung beschreiben, ohne sprachlich alle Register zu ziehen. Das fand ich schade, weil in diesem Buch einige poetische Formulierungen zu finden sind, die in mir noch lange nachhallen, durch ihre Übernutzung aber an Kraft verlieren. Ein Beispiel: „Eine Weile hatte er versucht, [die Albträume] in Alkohol zu ertränken, doch Albträume waren wie Sorgen gute Schwimmer“ (S. 85) vs. „Manchmal hatte er ins Auge gefasst, den Schmerz wieder einmal zu ertränken, in Whisky, Wodka oder anderem, aber nie hatte er es getan, denn er wusste von früher, dass Schmerz ein guter Schwimmer war“ (S. 129).
Auch Aris Trauer wurde mir etwas zu sehr breitgetreten. Sie wirkt zwar authentisch, aber irgendwann hatte ich als Leserin wirklich begriffen, dass er jetzt für immer traurig und nie wieder glücklich sein wird.
Beim Lesen wurde mir auch schnell klar, wer der titelgebende Herbstbringer ist, die Indizien im Buch sind mehr als deutlich und meine Vermutung hat sich am Ende auch als richtig herausgestellt. Deshalb finde ich es rückblickend irritierend, dass immer wieder Hinweise gestreut wurden, die wohl von diesem Verdacht ablenken sollten. Beispielsweise sinniert der Herbstbringer tagsüber nach der Lektüre eines Zeitungsartikels über seine eigene Tat darüber, dass er es gern gewesen wäre, der das getan hat.
Eine Sache, die ich außerdem nicht verstanden habe, ist die Anwesenheit des alten Mannes im Unterschlupf des Herbstbringers. Irgendwann taucht er einfach auf, verarztet den Herbstbringer und trainiert ihn in der Anwendung von Waffen, aber er bleibt metaphorisch so verschwommen, dass ich bis zum Ende nicht weiß, wer er ist, warum er das tut oder ob er überhaupt real ist.
Das Ende des Buches fand ich wiederum sehr gelungen. Ohne spoilern zu wollen: Es hätte in eine kitschige Richtung abdriften können, was aber zum Glück nicht passiert ist.
Trotz meiner Kritikpunkte habe ich diese etwas andere Superhelden-Geschichte sehr gern gelesen.
4/5 Herbstblättern