Buch mit einem abstrakten Cover, das wohl grün schillernde Spiegel-Teile auf einer grauen Mauer darstellt. Im unteren Drittel steht der Titel exit gender, klein geschrieben und in hellblauer Farbe, darunter in weiß der Untertitel: Gender loslassen und strukturelle Gewalt benennen: eigene Wahrnehmung und soziale Realität verändern. Darunter die Namen Lann Hornscheidt und Lio Oppenländer. In der rechten oberen Ecke das Verlagslogo von w_orten&meer. Aus dem Buch ragen zahlreiche blaue Klebezettelchen.

Kurzmeinung: Dieses Buch ist faszinierend, widersprüchlich, utopisch, und vor allem regt es zum Nachdenken an.


Worum geht es?

Die Grundidee: Nicht nur die gesellschaftlich tief verankerte Zweigeschlechtlichkeit (also die Einteilung von Menschen in Männer und Frauen) aufzubrechen, wie es in verschiedenen (queer-)feministischen Ansätzen der Fall ist, sondern die Existenz der Kategorie „Geschlecht“ selbst als konstruiert wahrzunehmen, zu überwinden und zu ent-lernen.

Das Buch lädt dazu ein, mithilfe verschiedenster Beispiele aus dem Alltag die eigene Wahrnehmung und Sprache zu hinterfragen, und bietet Impulse zur Veränderung. Warum ist es relevant, dass die Person, die uns vorhin nach dem Weg gefragt hat, ein Mann war? Woran glauben wir das überhaupt zu erkennen? An der Stimme, an der Bekleidung, an der Behaarung, am Geruch?

Dabei wagt es den Spagat zwischen dem Versuch, Menschen nur noch als Menschen und nicht mehr durch eine „Gender-Brille“ wahrzunehmen, und gleichzeitig durch Gender hergestellte Diskriminierung zu berücksichtigen und zu benennen. Das sieht schon auf den ersten Blick schwierig aus und ist auch bei tieferer Auseinandersetzung oft in sich widersprüchlich. Dennoch ist es gerade diese Widersprüchlichkeit, die ein fruchtbares Diskussionspotential eröffnet und zum Weiterdenken einlädt.

Wer ist die Zielgruppe?

Das Buch beleuchtet komplexe Zusammenhänge und ist damit meiner Meinung nach als ‚Einstiegs-Werk‘ in die Thematik ungeeignet. Es setzt stillschweigend Kenntnisse im Bereich von Queerfeminismus und diskriminierungskritischem Handeln voraus, ohne die ich viele Ausführungen sicher nicht verstanden hätte. Wer also schon von Aussagen wie „Geschlecht ist ein Konstrukt“ oder „Es gibt mehr als zwei Geschlechter“ irritiert ist, wird von diesem Buch wahrscheinlich nur überfordert werden. Für alle anderen kann es aber einen spannenden ergänzenden Ansatz und Inspirationen für das eigene Handeln und Sprechen bieten.

Wobei ich selbst einige Passagen schwer verständlich fand, vor allem die zum Verhältnis zwischen Struktur und Individuum. Es ist an einer Stelle ein redundantes Hin und Her zwischen ‚Alle Menschen werden von den Strukturen geformt, in denen sie aufwachsen, individuelle Schuldzuweisungen sind also nicht zielführend‘ und ‚Natürlich sind individuelle Personen für ihre eigenen Handlungen verantwortlich‘.

Widersprüche und transfeindlich anmutende Rhetorik

Eine der Strategien von Exit Gender ist, andere Menschen nicht mehr zu gendern (gendern hier im Sinne von „jemandem durch Sprache ein Geschlecht überstülpen“) und Gender grundsätzlich als ein gewaltvolles Konstrukt zu betrachten. Das steht allerdings im Gegensatz zu der ebenfalls mehrfach im Buch getroffenen Aussage, Entgendern könne in speziellen Fällen ebenfalls gewaltvoll sein. Zum Beispiel, wenn eine behinderte Frau in erster Linie als „Person mit Behinderung“ und erst in zweiter Linie als Frau wahrgenommen wird. Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst, bietet aber einen guten Ansatz für weiterführende Diskussionen.

Was ich jedoch sehr kritisch sehe, ist die Art und Weise, wie sich Exit Gender-Äußerungen mit Aussagen aus transfeindlichen Positionen heraus überschneiden. An einer Stelle wird beispielsweise die Empfehlung gegeben, eine Frau als „eine Person, die sich als weiblich versteht“ (S. 384) zu bezeichnen. Dies betont einerseits den Konstruktionscharakter von Gender und könnte – gesamtgesellschaftlich angewandt – zu einem Umdenken anregen. Andererseits finden sich Sätze wie dieser („versteht sich als …“ statt „ist …“) auch 1:1 in Strömungen wieder, die trans Menschen nicht anerkennen und ihnen unterstellen, sie „seien“ nicht ihr Geschlecht, sondern sie „verstehen sich als …“/„fühlen sich als …“ etc. (implizit: „… sind es aber nicht“). Exit Gender stellt diese Aussagen natürlich in einem ganz anderen Rahmen in den Raum und verwendet sie für cis und trans Menschen gleichermaßen. In der Realität wäre es aber ziemlich unpraktisch, jedes Mal zu sagen: „Wenn ich dich so bezeichne, meine ich das übrigens nicht transfeindlich, sondern exgendernd, hier, lies mal dieses 400-Seiten-Buch, dann verstehst du, was ich meine.“

An dieser Stelle zeigt sich deutlich: Exit Gender ist eine Utopie. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht sind viel zu stark in diese Gesellschaft einzementiert, als dass eine Überwindung dieser Kategorien jemals erreichbar erscheint. Und daraus ergibt sich naturgemäß, dass nicht alle Vorschläge und Anregungen aus dem Buch auch hier und heute und in jedem Umfeld realistisch umsetzbar sind.

Alltags-Beispiele und Unterstellungen

Was ich ebenfalls kritikwürdig finde, sind die Übungen zum Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung anhand von öffentlichen Alltagssituationen. An sich sind sie gut, um eigene Stereotypisierungen und unbewusste Genderungen fremder Personen zu erkennen und zu ent-lernen, aber laut diesem Buch scheint es da nur zwei Möglichkeiten zu geben: Negative Gefühle und Genderung oder verständnisvolles, mitfühlendes Denken und Exgendern.

Beispiel: Eine Person sitzt breitbeinig in der vollen U-Bahn und versperrt damit den Sitzplatz neben ihr. Nach diesem Buch gibt es hier nur zwei Möglichkeiten: Entweder ein genervter Gedanke wie: ‚Typisch Mann, natürlich muss der sich so breit machen‘, oder eine Wahrnehmung der Person als Mensch, ohne Gender-Zuschreibung, und ein Nachdenken über die Gründe, warum diese Person so dasitzt. Vielleicht mag sie ja keinen Körperkontakt?/Vielleicht ist es bequemer?/… Ich vermisse da einen Mittelweg – warum soll es nicht möglich sein, das Verhalten einer Person nervig/scheiße/unhöflich zu finden, ohne ihr dabei ein Gender zuzuweisen?

Einige Strategien von Exit Gender hatte ich bereits versucht in mein Leben zu integrieren, bevor ich das Buch überhaupt in die Hand genommen habe (z.B. fremden Menschen kein Gender zuzuweisen, weil das nicht relevant ist; Vergeschlechtlichung von Produkten wie Kleidung oder Taschen zu hinterfragen etc.), und ich bin mit sehr wenig Diskriminierung in Bezug auf mein zugewiesenes Geschlecht aufgewachsen, obwohl die Strukturen etwas anderes verheißen. Deshalb haben mich einige Aussagen in Bezug auf verinnerlichte Stereotype irritiert. Sätzen wie „Menschen nehmen sich selbst […] nicht primär als Personen wahr, sondern als weibliche oder männliche Personen“ (S. 61) oder „‘Frauen‘ erleben sich nicht zunächst als Menschen […]. Frau-Sein ist das als authentisch und wahrhaftig empfundene primäre Selbstbild“ (S. 68) halte ich für kühne Unterstellungen, denen ich nicht zustimmen kann.

Ähnlich geht es mir mit der Gegenüberstellung vermeintlich neutraler Adjektive (S. 332 f.), die jedoch im alltäglichen Sprachgebrauch angeblich geschlechtsbezogen verwendet werden. Dass „keifend“ frauisierend verwendet wird und das typisierende Gegenstück dazu „cholerisch“ lautet, kann ich noch verstehen, aber Gegensätze wie „anschmiegsam (frauisierend) – anhänglich (typisierend)“ oder „vorlaut/aggressiv (frauisierend) – durchsetzungsfähig (typisierend)“ sind mir schleierhaft. Kann sein, dass es einfach an meinem Umfeld liegt, in dem diese Adjektive nicht geschlechtsspezifisch verwendet wurden (bzw. von der Häufigkeit her eher umgekehrt: Ich habe z.B. „aggressiv“ deutlich häufiger in Bezug auf Jungen gehört).

An dieser Stelle sowie einigen anderen komme ich mir vor wie damals im Ethik-Unterricht, als die Lehrerin uns für geschlechtsbasierte Ungleichbehandlung sensibilisieren wollte und uns u.a. erzählte, Eltern bekämen lieber Jungs als Mädchen und würden Brüder gegenüber ihren Schwestern bevorzugen. Wir Mädchen (fast alle hatten einen Bruder) konnten uns nur irritiert anschauen. Das stimmte überhaupt nicht mit unserer Realität überein.

Das heißt natürlich nicht, dass es diese Realität für andere Menschen nicht gibt, aber auch in diesem Buch werden mir und meinem Umfeld oft Stereotypen und Dynamiken unterstellt, die so nicht vorherrschen. In dieser Hinsicht haben mich diese allgemein formulierten Feststellungen irritiert und dafür gesorgt, dass ich mit den entsprechenden Abschnitten nicht viel anfangen konnte.

Gender, Staat und Gesetz

Als eine Person, die sich eine Zeitlang intensiv mit der juristischen Dimension von Geschlecht beschäftigt hat, kritisiere ich in diesem Buch auch die immense Überschätzung staatlicher Macht. An einer Stelle heißt es zur Einführung des dritten möglichen Geschlechtseintrags divers: „Statt Gender als Zuordnungssystem sein zu lassen, hat der Staat zementiert, dass Gender bleibt – ergänzt um eine weitere Kategorie.“ (S. 86).

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung zu Dritten Option von 2017 schon darauf hingewiesen, dass eine gänzliche Abschaffung staatlicher Erfassung von Geschlecht durchaus verfassungskonform wäre. Es stellte also eine reale Möglichkeit dar. Das Problem: Der Staat kann nur eine bürokratische Dimension von Gender abschaffen, nicht aber Gender selbst. Im Gegenteil: Gender würde aus der staatlichen Erfassung verschwinden (was durchaus zu begrüßen wäre), aber dadurch würde es nur ins Private verschoben werden. Und im Privaten waren/sind die meisten Menschen ja noch nicht einmal bereit, an der Zweigeschlechtlichkeit zu rütteln.

Mit der Einführung der Dritten Option hat sich zumindest das ein wenig geöffnet. Aussagen wie: „Ach so, na wenn das jetzt sogar die Gerichte/die Regierung anerkennen, dann muss da ja wirklich was dran sein“ habe ich durchaus schon gehört. Ich stelle hier auch mal eine kühne Behauptung auf: Die Abschaffung des Geschlechtseintrags hätte gesellschaftlich rein gar nichts geändert. Nicht an der Wahrnehmung und nicht an der Sprache, es hätte auch nicht zu mehr gegenseitigem Respekt geführt. Im Gegenteil wäre Menschen so eine bedeutende Handhabe genommen worden, ihre Rechte durchzusetzen (z.B. Einklagen von Nennung des richtigen Namens und der richtigen Ansprache gemäß dem Geschlechtseintrag).  

Darüber hinaus haben wir in unserem alltäglichen Leben und unserer alltäglichen Kommunikation – worauf dieses Buch ja den Fokus legt – wenig mit den Geschlechtseinträgen unserer Mitmenschen zu tun. Diese Geschlechtsangabe steht ja noch nicht einmal im Personalausweis. (Wirklich nicht! Gern mal nachschauen.)

Sprachliches Exgendern

Ein Abschnitt, der mich besonders interessiert hat, weil er für meinen Alltag als viel-schreibende Person am relevantesten ist, ist der über das sprachliche Exgendern. Die Vorschläge dafür empfand ich als einen guten Input, leider liegt es aber oft in der Natur dieser Ausdrücke, wenig alltagspraktisch oder unpräzise zu sein. Wie ich an der Stelle immer gern sage: Protestierende sind etwas anderes als Protestant*innen. Oder konkret auf die Beispiele im Buch bezogen: „Menschen, die arbeiten“ hat eine andere Bedeutung als „Arbeiter*innen“ (im Sinne einer working class – hier insofern konsequent, als dass im Buch das Konzept von Identitäten generell abgelehnt und der Fokus auf Handlungen gelegt wird; das ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei der Arbeiter*innenklasse um ein historisch und politisch relevantes Konzept handelt).

Als exgendernde Alternative für „Mutter/Vater, Eltern“ wird außerdem vorgeschlagen: „Person, die mit Kind(ern) lebt und für dieses/diese erziehungsberechtigt ist“. Das ist erstens extrem sperrig und zweitens auch nicht immer richtig, da nicht alle Eltern für ihre Kinder erziehungsberechtigt sind und/oder mit ihnen zusammenleben. Ob eine Elternperson in einem konkreten Fall für das Kind die rechtliche Funktion der Erziehungsberechtigung innehat oder tatsächlich dauerhaft mit dem Kind zusammenlebt, spielt in der Alltagssprache außerdem gar keine Rolle bzw. ist wahrscheinlich auch nicht immer bekannt. Außerdem: Was spricht überhaupt gegen „Eltern“ bzw. „Elter“ im Singular? Dieses Wort impliziert ja ebenso kein Geschlecht.

Eine weitere interessante Idee ist die exgendernde Verwendung von Substantiven: Hierbei wird ganz auf vergeschlechtlichte Endungen verzichtet. Aus „Richter“ bzw. „Richter*in“ wird so beispielsweise „Richt*“ oder „Richtpers“. Spätestens bei „Aut*“ bzw. „Autpers“ funktioniert das jedoch nicht mehr. Im Buch wird das als Exit Gender-Ausdrucksweise von „Autor*in“ angeführt, es könnte aber genauso gut für „Autist*in“ stehen.

Intersektionalität und Privilegien

Dieses Buch spricht nicht nur über Gender als Diskriminierungskategorie, sondern bezieht auch andere Dimensionen mit ein, namentlich Rassismus und Behinderung. Diese Aspekte werden allerdings immer nur angerissen und nie in die Tiefe verfolgt; sie werden oft nur ergänzend in den Raum geworfen, als könnten sich die Lesenden alles Weitere dazu selbstverständlich denken. Ich kritisiere nicht, dass ein Buch nicht alle Perspektiven abdecken kann, aber diese Aspekte wirken auf mich verdächtig wie der Vollständigkeit halber nachträglich hinzugefügt, sodass behauptet werden kann, einen intersektionalen Ansatz zu vertreten.

Eine Ebene, die gar nicht thematisiert wird, sich aber hervorragend für Diskussionsrunden eignet: die Privilegien, die es braucht, um überhaupt im Sinne dieses Buches exgendernd handeln zu können. In einem linken, universitären Umfeld in der Großstadt funktioniert das sicher gut. In einer konservativen Kleinstadt, in der die meisten Menschen ihr Kreuzchen rechts setzen und von der Nachbarin bis zum Chef queerfeindliche Reden schwingen, sieht das schon ganz anders aus. 

Außerdem stelle ich es mir schwierig vor, Menschen ohne einschlägige akademische Bildung zu verklickern, warum sie z.B. nicht „Frauen verdienen immer noch weniger Geld als Männer“ sagen sollten, sondern lieber „Genderistische Strukturen führen dazu, dass die Diskriminierten immer noch deutlich weniger verdienen als die durch Genderismus Privilegierten“ (S. 342 – dort genau so als Alternative zu einer Aussage wie der obigen vorgeschlagen). Insofern haftet Exit Gender auch etwas sehr Elitäres an.

Fazit

Ich könnte noch eine ganze Weile so weitermachen, aber ich denke, mein Punkt ist klar: Dieses Buch bietet spannende Denkanstöße, aber ebenso viel Kritikpotential. Dabei bezieht sich meine Kritik vor allem auf Generalisierungen, Überspitzungen und wenig alltagspraktische Vorschläge – und ist insoweit nicht immer negativ zu sehen, denn all das kann einen guten Startpunkt für eine Diskussion bieten. Ich selbst hatte das Glück, Teil eines sehr bereichernden Buchclub-Gesprächs über dieses Buch zu sein, in dem wir unsere grundsätzliche Begeisterung für das Konzept geteilt haben, aber auch Kritikpunkte ausführlich diskutieren konnten.

Obwohl ich also nicht allen Aussagen und Ansätzen in diesem Buch zustimme, so hat es mich doch zum Nachdenken gebracht, zur Reflexion angeregt und Denkanstöße geliefert, die ich definitiv in meinen Alltag mitnehmen werde. Insofern ein gelungenes Projekt!

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