E-Book: Chlorine von Jade Song. Auf dem Cover ist im Comic-Stil die Flosse einer Meerjungfrau gezeichnet, die gerade in spritzendes Wasser eintaucht.

Kurzmeinung: Ein abgründiges und gesellschaftskritisches Buch mit einer Portion Horror – definitiv ein Jahreshighlight!


Dieses Buch ist mir auf Social Media immer wieder in Empfehlungs-Posts für Horror-Bücher begegnet, was einerseits toll ist, weil ich es als Horror-Liebhaberin sonst nicht entdeckt hätte. Andererseits finde ich diese Genre-Einordnung ein bisschen unglücklich, denn sie trifft den Inhalt des Buches nicht wirklich. Eingefleischte Horror-Fans werden vermutlich enttäuscht sein, andere werden eventuell allein aufgrund der Genre-Einordnung einen Bogen darum machen und eine tolle Geschichte verpassen.

Deshalb eines gleich vorweg: Chlorine ist nicht im klassischen Horror-Sinne gruselig. Es fokussiert sich vielmehr auf eine ganz bestimmte Ausprägung von Body Horror – mehr dazu im Spoiler-Teil – und im übertragenen Sinne auf den Horror des alltäglichen Drucks, der vor allem auf jungen Mädchen, Kindern von Immigrant*innen in den USA und Leistungssportler*innen lastet. 

Protagonistin des Romans ist die 17-jährige Ren, eine herausragende Leistungsschwimmerin – und eine Meerjungfrau. Auf mitreißende und verstörende Weise erzählt sie die Geschichte davon, wie sie zu diesem Wesen werden konnte: Von ihrer frühkindlichen Faszination für die verschiedensten fiktiven Meerjungfrauen über ihre ersten Schwimmzüge in einem Pool bis zum schicksalhaften Tag in der Schwimmbaddusche, an dem sich ihre Wandlung vollzogen hat.

Ich liebe Ren als Figur, obwohl sie eigentlich überhaupt nicht mögenswert ist: Sie ist arrogant, manipulativ und blickt oft von oben auf andere herab; der Schreibstil ist der eines überdramatischen Teenagers, der sich über alle anderen erhebt. Dennoch wird schnell klar, dass Ren nicht einfach so ein unangenehmer Mensch ist, sondern eine zutiefst psychisch instabile Person, die von unterschiedlichsten Faktoren in ihrem Umfeld immer weiter in eine Art Wahn gedrängt wird.

Ich liebe es auch, wie schonungslos ehrlich und direkt und messy dieses Buch ist: So geht es z.B. um starke Regelschmerzen (fühle mich sehr gesehen!), um die blutigen erfolglosen ersten Versuche, einen Tampon einzuführen oder um Schwangerschaftstests, die nicht sofort funktionieren. Es geht aber auch um Sex und Übergriffigkeit und die Grauzonen in diesem Bereich: Da ist Jim, der Trainer von Rens Schwimm-Team, dessen Berührungen natürlich nur der Technik-Verbesserung der Mädchen dienen und die immer nur leicht unterhalb der Strafbarkeits-Grenze liegen, dessen anzügliche Sprüche natürlich nur freundlich gemeint sind. Oder Lukas, einer ihrer Teamkameraden, mit dem sie auf einer Party nach einer Runde Wahrheit oder Pflicht Sex hat, ohne konkret ja oder nein zu sagen, und wonach sie sich fürchterlich fühlt.

Auch die Charakterdynamiken finde ich sehr gelungen: Da ist z.B. die Beziehung zwischen Ren und ihrer Teamkameradin und besten Freundin Cathy, die von romantischem Begehren einerseits und herablassender Manipulation andererseits geprägt ist. Oder die Beziehung zwischen Ren und ihrer Mutter, die sie stark unter Druck setzt, ihre Liebe aber auf ihre ganz eigene Art ausdrückt. Gerade am Ende gibt es eine Szene, die ich sehr mochte: Ren hat etwas Furchtbares getan, das ihre Mutter nicht nachvollziehen kann – aber sie zeigt deutlich, dass sie es zumindest versucht zu verstehen, was dahintersteckt.

Letztendlich geht es auch um rassistische Mikroaggressionen, die Ren erlebt, um Körperideale und um Team-Zusammenhalt, um psychischen Druck von allen Seiten und um die im Leistungssport identitätsstiftende Frage, wer man eigentlich ist, wenn man diesen Sport nach Jahren aufgibt.

Ein heftiges Buch, aber auch absolut mitreißend. Das Ende fand ich zwar so vorhersehbar, dass es mich fast überrascht hat, da hätte ich mir noch mal einen Twist gewünscht. Nichtsdestotrotz liebe ich diese Geschichte und die Art, wie sie erzählt wird. Definitiv eins meiner Jahreshighlights!

5/5 Meerjungfrau-Flossen


Wer vor dem Lesen wissen will, wie genau der Horror-Anteil des Buches aussieht, kann sich hier spoilern:

Ren empfindet eine Art körperliche Dysphorie, weil sie davon überzeugt ist, eine Meerjungfrau zu sein, aber zwei menschliche Beine hat. Deshalb näht sie sich ihre Beine im letzten Drittel des Buches zusammen. Dass alles darauf hinausläuft, wird im Laufe der Geschichte immer wieder angedeutet; der Akt selbst wird extrem grafisch beschrieben. Ren empfindet währenddessen und danach jedoch hauptsächlich Euphorie. Das letzte Drittel des Buches verbringt sie mit zusammengenähten Beinen und kann sich eigenständig nur noch hüpfend fortbewegen. Dabei leidet sie nicht unter den Nähten, sondern empfindet ihre Schwanzflosse (sie hasst es, wenn sie als Beine bezeichnet wird) als einen authentischen Teil ihrer Selbst. Der genaue Zustand der Nähte, Entzündungen o.ä. werden nicht thematisiert.

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