Kurzmeinung: 10 größtenteils gelungene Kurzgeschichten über den Grusel der unterschiedlichsten verrufenen Orte.
Diese Horror-Anthologie erzählt von verschiedenen verrufenen Orten, die sich zumeist durch subtilen, wohligen Grusel auszeichnen. Es ist ein verhältnismäßiges dünnes Buch mit 10 Geschichten, dafür erscheinen die Texte sorgsam ausgewählt und sind sehr abwechslungsreich – was ich als angenehm empfinde, denn bei Themen-Anthologien kommt es sonst gern mal vor, dass einige Texte sich sehr ähneln.
An den Geschichten selbst habe ich einige kleinere Kritikpunkte, aber im Großen und Ganzen hat mir die Anthologie Spaß gemacht und ich habe mich wunderbar gegruselt und unterhalten gefühlt.
Außerdem ein sehr interessantes Konzept: Statt Vitae gibt es in dieser Anthologie von den Autor*innen Informationen darüber, wie sie auf die Idee zu ihrem Text gekommen sind und ob bzw. welche realen verrufenen Orte ihrer Geschichte zugrunde liegen. Das finde ich super – es bietet noch mal eine ganz andere Perspektive auf die jeweiligen Kurzgeschichten (und manchmal auch ein bisschen mehr Gänsehaut).
Zu den einzelnen Texten:
Schon die erste Geschichte, Die Grotten von Maastricht von Ann-Christin Hensen startet mit einer gelungenen Mischung aus einem lockeren, leicht humorvollen Erzählton und dem unerklärlichen Grusel, der in einem Höhlensystem lauert, in dem die Protagonistin als Touristenführerin arbeitet. Ich wurde sofort in den Text hineingezogen und habe mit Spannung verfolgt, wie sie immer mehr unterirdischen Merkwürdigkeiten begegnet. Obwohl ich sonst ein großer Fan von Verdichtung bin, ist das hier einer der wenigen Texte, bei denen ich finde, dass sie ruhig etwas länger hätten sein können. Ich hätte gern noch mehr über das Labyrinth aus unterirdischen Gängen erfahren, immerhin arbeitet die Protagonistin seit drei Jahren dort. Das Ende wiederum fand ich sehr gelungen gruselig auf eine Art, mit der ich nicht gerechnet hätte.
Eisenkoloss von D. Brahms spielt an einem heißen Sommertag bei einem alten Stahlwerk. Sehr atmosphärisch entfaltet sich hier die Stimmung der sengenden Hitze über der stillgelegten Fabrik, die ein dunkles Geheimnis hüten soll. Zwei Jungs machen sich auf, das verlassene Werk zu erkunden, und natürlich wird es gruselig – eine richtige kleine Pageturner-Geschichte. Poetisch ausgefeilt und dadurch sehr stimmungsvoll, manchmal ist es allerdings auch ein bisschen zu viel des Guten, beispielsweise wenn der etwa dreizehnjährige Erzähler von seinem eigenen „tränenschwangere[n] Blick“ (S. 38) spricht.
Strelemanns Haus von Morgan D. Crow erzählt von einem unheimlichen alten Haus, dessen Grusel sich vor allem daraus speist, dass niemand so wirklich weiß, was es damit auf sich hat. Umrankt von vagen Gerüchten scheint es selbst zum Leben zu erwachen und zum neugierigen Beobachter der verängstigten Menschen um sich herum zu werden. Eine originelle und auf den Punkt gebrachte Erzählweise für das im Horror oft verwendete Motiv des Gruselhauses.
In Das Hotel zu den Fichten von Resa Blum fahren drei Freude gemeinsam in ein Hotel im Schwarzwald, um dort eine Geistersoiree zu besuchen. Neben dem enttäuschenden Programm der Veranstaltung warten auf den arroganten Protagonisten, der die vermeintlich abergläubischen kleinen Rituale an diesem Ort spöttisch ablehnt, jedoch noch ganz andere Schrecken. Wieder eine sehr spannende Geschichte, über nächtliche unheimliche Phänomene und das Verlorengehen an einem unbekannten Ort. Und die wichtige Lektion: Immer schön den Bischof grüßen.
Das Knarren der Dielen von Florian Krenn hat mich mit seiner gedrückten Stimmung sehr beeindruckt: In der Geschichte lebt eine Frau in einem geerbten alten Haus mit einer düsteren Vergangenheit. Sie sieht sich jedoch nicht in der Lage, es dauerhaft zu verlassen, denn darin wohnen noch die Erinnerungen an die geliebten Menschen, die sie verloren hat. So begibt sie sich auf eine aussichtslose Verfolgungsjagd durch das Gebäude, um einem Schatten nachzustellen, den sie doch nie einholen kann. Die geisterhaften Erscheinungen wirken dabei weniger gruselig, sondern sind mehr bittersüßer Ausdruck einer tief sitzenden Trauer, die die Protagonistin nicht loslässt, und ein Trost in ihrer Einsamkeit. Berührend und atmosphärisch, mit einem makabren Twist am Ende. Wahrscheinlich meine Lieblingsgeschichte in dieser Anthologie!
Paranormal Buddies von Christian Bulwien ist eine Geschichte mit einem interessanten Twist, der mir ein Aha-Erlebnis in Bezug auf ein beliebtes Horror-Klischee beschert hat. Sehr originell und spannend in der Umsetzung eines Perspektivwechsels. Wenn man das Ende kennt, ergibt es auch Sinn, dass der anfängliche Erzähler schwer greifbar erscheint, dennoch hat es erst einmal dazu geführt, dass ich mit ihm nicht wirklich warm geworden bin. Er lebt als einziger noch in einem ansonsten verlassenen Dorf und wirkt seltsam alters- und charakterlos, die Reflexionen über seine Vergangenheit bleiben merkwürdig platt und unpersönlich, und zwischen den Nächten, in denen er versucht, einem seltsamen Phänomen auf die Spur zu kommen, wird nur erwähnt, dass er seinem – nicht näher bestimmten – Tagesablauf nachgeht. Hier hätte ich mir etwas mehr Persönlichkeit gewünscht.
Zuhause von Agnes Sint ist dagegen wieder eine recht klassische Gruselgeschichte über eine Familie, die in ein altes Haus einzieht und dort vom Spuk heimgesucht wird. Inhaltlich nichts Herausragendes, aber durch die Briefform aufgelockert und ganz angenehm-schaurig zu lesen.
Die Idee eines heimgesuchten Spielplatzes in Der Spielplatz von Marc Mair-Noack fand ich sehr spannend, es hat jedoch eine Weile gebraucht, bis sich bei mir ein richtiges Grusel-Gefühl eingestellt hat. Die Erzählweise ist ziemlich nüchtern, und es fiel mir irgendwie schwer zu glauben, dass ein erwachsener Mensch nachts auf einem Spielplatz Angst bekommt, nur weil dort in letzter Zeit einige Kinder verunfallt sind und die Spielgeräte im Dunkeln ein bisschen unheimlich aussehen. Erst später kommt es zu einer unheimlichen Situation auf dem Rutschenturm, die ich wirklich gelungen fand, und auch das Ende hat sehr gut zur Geschichte gepasst.
Die Idee hinter Yuko von Randolf Eilenberger finde ich eigentlich sehr interessant: Es geht um die Geister der Menschen, die von einem tödlichen Tsunami erfasst wurden und seitdem ruhelos im Wald umherziehen. Ihre Präsenz hat nichts Gruseliges sondern eher etwas Traumartiges, das mich auf eine ganz bestimmte Weise berührt hat. Leider ist es vor allem die titelgebende Yuko, die das Ganze irgendwie einreißt: Sie begegnet den Geistern völlig emotionslos und scheint an ihnen überhaupt nichts ungewöhnlich zu finden. Selbst, als sie mit ihnen gemeinsam in ein kaputtes Boot steigt, das dann durch den Wald in Richtung Meer schwebt, findet sie das anscheinend so langweilig, dass sie darin sogar einschläft. Auch die Art und Weise, wie sie überhaupt zur Begegnung mit den Geistern kommt, ist mehr als rätselhaft: Yuko wird von ihrer Mutter allein zu Hause gelassen (warum es nötig war, erst einmal eine Seite lang die Gedanken der Mutter darüber zu schildern, weshalb sie Yuko nicht zu ihrem Termin mitnehmen kann, ist mir schleierhaft), und ihr wird verboten, das Haus zu verlassen. Aus irgendeinem Grund geht Yuko aber davon aus, dass ihr Stoff(!)kater weggelaufen ist, und sie geht nach draußen, um ihn dort zu suchen. Vor dem Wald findet sie ein Schild mit einem durchgestrichenen Mann, aber sie schlussfolgert, dass das Schild nicht für sie gelte, weil sie ja ein Kind sei und kein Mann. Das wirkt alles ziemlich hanebüchen.
In Zwei Gläser Wein von Nicola Hölderle passiert außer einem Gaststättenbesuch erst einmal nicht viel, die Geschichte erlebt erst am Ende einen spannenden Twist. Ein interessantes Spiel mit den Konzept der Urban Legend und ein gelungener Abschluss für diese Anthologie.
Was mich äußerlich irritiert hat, sind einige Fehler und Auffälligkeiten in den Texten, beispielsweise finden sich an einigen Stellen halb durchgestrichene Wörter, als wäre ein über ‚Änderungen nachverfolgen‘ gemachter Vorschlag im Rohdokument nicht bearbeitet worden und dann so in den Druck gegangen (z.B. S. 87). Das habe ich so auch noch in keinem Buch gesehen.
Insgesamt aber trotzdem eine gute Anthologie mit spannenden Ideen und Geschichten, auch wenn mich nicht alle ganz überzeugen konnten.
4/5 Gruselhäusern