Das Buch "Mysterien der See" von Vanessa Kaiser und Thomas Karg. Auf dem Cover ist ein krabbenähnliches Seeungeheuer mit vielen Zähnen und Augen abgebildet, das von Flugzeugen umkreist wird. Über dem Monster steht: Vanessa Kaiser und Thomas Karg präsentieren. Unter dem Monster steht der Titel, Mysterien der See, und der Untertitel, Düstere Geschichten. Darunter das Logo des Verlags Torsten Low.

Kurzmeinung: Thematisch eigentlich total mein Ding, leider konnten mich die meisten Geschichten in der Umsetzung nicht abholen.


Wenn ich eine Anthologie lese, gibt es Geschichten, die mir gefallen, Geschichten, die mir nicht gefallen, und Geschichten, an denen ich nichts Konkretes zu kritisieren habe, die mich aber trotzdem nicht abholen konnten. Das ist völlig normal – auch, wenn mir einzelne Texte nicht zusagen, kann ich eine Anthologie insgesamt trotzdem sehr gut finden.

Leider ist das hier nicht der Fall, denn ich habe an fast allen Geschichten etwas auszusetzen. Hölzerne Dialoge, schlecht ausgearbeitete Handlungen, lieblose Erzählweise – am Ende sind die meisten dieser Geschichten B-Movies im Buchformat. Wer das mag, wird an diesem Buch sicher Freude haben. Mich konnte es leider nicht begeistern. Dabei hatte ich mich so aufs Lesen gefreut, denn Kurzgeschichten mit dem Thema Meeres-Horror sind eigentlich genau mein Ding! Es waren zwar auch Geschichten und Ideen dabei, die mir gefallen haben, aber auch die werden mir nicht dauerhaft im Gedächtnis bleiben, denn die Latte hängt niedrig.


Schon die erste Geschichte, Meerschaumaugen von Nele Sickel, hat mich ein wenig enttäuscht. Zwar punktet sie mit einer wundervoll gruseligen Atmosphäre, wirkt aber eher wie ein surrealer Albtraum als wie ein realer Tauchgang. Dass Menschen mit spezieller Ausrüstung tatsächlich in über 4.000 Metern tauchen können, schenke ich mal der künstlerischen Freiheit, aber das Szenario wirkt so seltsam losgelöst von allem, dass es dem Gruselfaktor wieder schadet. Ich weiß nicht, wie der Taucher Amir so tief hinunter gekommen ist, wie er wieder hochkommt (die Dekompressionszeit muss ein Albtraum sein, aber das beschäftigt ihn überhaupt nicht), warum er überhaupt dort unten ist. Dafür, dass das Tiefseetauchen so eine große Errungenschaft ist, wirkt er seltsam ziellos. Außerdem scheint er entweder kein sonderlich guter Taucher zu sein oder hier mangelt es tatsächlich an grundlegender Recherche: Nach seiner ersten Halluzination im Wasser redet er sich ein, dass da gerade nur seine Fantasie mit ihm durchgegangen ist – anstatt darüber nachzudenken, dass diese Einbildung eventuell daher rührt, dass er gerade das falsche Gasgemisch einatmet. Ich sage nur: Tiefenrausch/Stickstoffnarkose.

Echo Angst von Carsten Theile hingegen schlägt ganz andere Töne an: Hier testet ein überängstlicher Wissenschaftler mit Klaustrophobie in einen U-Boot voller abgehärteter Matrosen seine neueste Erfindung, den Phobographen, einen Angstmesser. Die Geschichte lebt von der Überzeichnung: der neurotische Dr. Maus auf der einen Seite, der Nazi-Phrasen dreschende U-Boot-Kapitän, den scheinbar nichts mehr erschüttern kann, auf der anderen Seite. Und das Ende fand ich gelungen – es ist zwar extrem subtil, aber auf eine so grauenvolle Weise, dass es mir kalt den Rücken runtergelaufen ist.

In Lorelei von Jan-Christoph Prüfer findet ein Mann eine verwahrloste, nackte Frau am Fluss und nimmt sie mit zu sich nach Hause, wo sie es sich von da an in seiner Badewanne in eiskaltem Wasser bequem macht. Er ist so sehr sexuell verzückt von ihr, dass er gar nicht merkt, dass ihr Sirenengesang in seinem kleinen Dorf für Tod und Verderben sorgt. Eine interessante Umsetzung des Seejungfrau-Mythos; es ist schon ein bisschen witzig, wie verblendet der Protagonist sich verhält.

Shearwater Cave von Günther Kienle wirkt sowohl thematisch als auch stilistisch wie aus dem Repertoire von H. P. Lovecraft entnommen – was Fluch und Segen gleichzeitig ist, denn ich liebe Lovecrafts Geschichten, und auch diese hier hat mich auf ähnliche Weise gefesselt. Eine unheimliche Atmosphäre trifft auf ein schauerliches Wesen, das in einer Grotte nahe einem Dorf am Meer hausen soll. Da alles an dieser Geschichte jedoch wirklich sehr stark an Lovecraft angelehnt ist, könnte man gar von einem Abklatsch sprechen. Dabei fehlt dem Text die Finesse eines Lovecraft, beispielsweise als der Protagonist ein Gespräch zwischen zwei Dorfbewohnern belauscht, die sich ziemlich hölzern zufällig genau das erzählen, was für den Protagonisten und seine Familiengeschichte gerade relevant ist. Das wirkt gestellt und hätte eleganter gelöst werden können.

Auch in Ka-moho-ali’i – Die dunkle Seele der See von Heike Knauber geht es um eine unheimliche Gestalt in einer Höhle am Wasser, die Umsetzung ist hier allerdings um einiges schwächer. Die Ereignisse in dieser Geschichte wirken beinahe willkürlich zusammengewürfelt und lassen mich mit zu vielen Fragen zurück. Warum liefert der König der Haie die Protagonistin an die Dämonin aus, obwohl sich am Ende herausstellt, dass er sie unbedingt begatten möchte? Die Dämonin selbst scheint darauf auch keine Antwort zu haben. Was ist sie überhaupt für eine mächtige Dämonin, die sich mit ein paar Stockschlägen besiegen lässt? Warum wird der Protagonistin gesagt, sie sei mehrere Monate fort gewesen, obwohl es sich für sie angefühlt hat wie nur eine Nacht? Und warum mussten die Frauen ihres Dorfes überhaupt hungern, nur weil die Männer in den Krieg gezogen sind und die Felder nicht mehr bestellen können? Das kriegen sie nicht selbst auf die Reihe, nur weil sie Frauen sind? Ernsthaft?

Das Mutterriff von Florian Clever erzählt von zwei Männern, die im Auftrag ihres Arbeitgebers ein Riff in die Luft jagen sollen. Dabei wird eine kleine Dystopie aufgemacht, in der Überfischung und genetische Manipulation eine Rolle spielen, was ich an sich sehr interessant fand. Mit dem Stil bin ich jedoch nicht warm geworden. Er ist knapp und flapsig gehalten und passt damit zu den beiden Macho-Protagonisten, aber das geht mir schnell auf die Nerven, genau wie die Protagonisten selbst. Immerhin bleibt mir am Ende ein bisschen Schadenfreude, wenn die Geschichte schon nicht wirklich gruselig ist.

Schwere See von Jörg Fuchs Alameda thematisiert die Trauer eines Paares um das gemeinsame Kind, das im Meer ertrunken ist, und nimmt am Ende eine phantastische Wendung. Irritiert hat mich hier die Kombination aus einfachen, kurzen Sätzen und tiefgreifenden Metaphern, das wirkt inkonsequent, ebenso wie die Trauer und der Verlust des Kindes irgendwie plakativ erscheinen. Die Handlung im Verlauf der Geschichte fand ich aber ganz kreativ ausgearbeitet.

Tag der Krabbe von Thomas Williams schlägt wieder ganz andere Töne an: Hier geht es um einen Adrenalinjunkie, der gemeinsam mit Gleichgesinnten Spaß daran hat, sich von einer mörderischen Riesenkrabbe jagen zu lassen. Dazwischen noch zwei Heiratsanträge und viel schwarzer Humor, der das Bedürfnis nach immer extremeren Sportarten und Erlebnissen herrlich auf die Schippe nimmt.

Baychimo von M. H. Steinmetz ist auch wieder ziemlich hölzern in seinen Dialogen, das kann man hier aber fast schon B-Movie-Charme nennen. Die gruselige Atmosphäre fand ich jedenfalls gelungen und auch das detaillierte Design der grauenvollen Seewesen hat mir sehr gut gefallen.

Die dunkle Seite von Bettina Ferbus fand ich wieder recht platt: Ein Mann, der sein Vermögen mit Medikamenten gemacht hat, in denen er u.a. getrocknete Seepferdchen verarbeitet, wird durch eine Meeresgöttin selbst in eines verwandelt. Hm.

Aino und die Wassergeister von Gundel Steigenberger habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden. Aino ertrinkt, dann erfolgt ein Zeitsprung und sie ist plötzlich mit einem Unterwasser-Prinzen zusammen, der sich im Laufe der Geschichte als der Mann herausstellt, der einst ihre Schwester vergewaltigt, geschwängert und schließlich ermordet hat. Warum er, der einst ein normaler Mensch gewesen ist, nach seinem Ertrinken ein Prinz geworden ist, bleibt ungeklärt. Auch das Ende erscheint mir völlig an den Haaren herbeigezogen: Erst hat Aino eine Amnesie, später erinnert sie sich jedoch daran, wie sie einst vor dem ‚Prinzen‘ geflohen ist, weil er sie – quasi als Ersatz für ihre tote Schwester – heiraten wollte. Mit all dem Wissen und der Erinnerungen an die Ängste, die sie wegen dieses Mannes ausgestanden hat, ist sie auch zunächst wütend auf ihn, aber als klar wird, dass sie dem Meer nicht mehr entkommen kann, sieht sie das alles ganz plötzlich sehr positiv und freut sich sogar darüber,  mit ihm gemeinsam als Meereskönigin herrschen zu dürfen. Dieses Friede-Freude-Eierkuchen-Ende ist so absurd, dass ich fast lachen musste. Sehr, sehr freudlos.

Pandora von Vincent Voss ärgert mich auf eine ganz andere Art: Die Idee hätte so viel Potential gehabt und die Geschichte hat auch ihre Glanzpunkte (die Szene in der Kapitänskabine ist zum Beispiel sehr gelungener Grusel), aber der Rest wirkt einfach öde und unausgegoren. Es beginnt mit einem mechanisch-plumpen Einstieg, bei dem null Spannung entsteht; die fünf befreundeten Hauptfiguren sind seelenlose Pappaufsteller ohne jegliche Charaktereigenschaften, und der eigentliche Horror bleibt so vage, dass man meinen könnte, der Autor habe keine Lust gehabt, sich tiefergehende Gedanken über seine Details zu machen. Die Geschichte beginnt quasi mit ‚Da ist etwas Unheimliches im Wasser‘ und endet auch mit ‚Da ist etwas Unheimliches im Wasser.‘ Schade, dabei waren gute Ansätze für eine interessante Hintergrundgeschichte zu erkennen.

Zu viel Hai in der Suppe von Nora-Marie Borrusch klingt dem Titel nach erst mal nach Comedy, ist aber ein düsteres Splatter-Fest und kann fast als blutige Fortsetzung von „Das Mutterriff“ durchgehen, denn auch hier geht es um Meereswesen, die grausame Rache an den Menschen nehmen, die die Ozeane überfischen und Wasserlebewesen aus reiner Geldgier töten. Die schonungslosen Beschreibungen der Kämpfe zwischen Menschen und Meereswesen fand ich recht eindrucksvoll und das Unterwasser-Worldbuildung war auch ganz interessant. Nur die Tiraden gegen die bösen, gierigen Menschen fand ich wieder etwas hölzern und plakativ.

Das dunkle Lied der See von Sandra Lode fand ich zur Abwechslung mal richtig gut. Wieder eine Variation der Meerjungfrau in der Badewanne, aber dieses Mal durchgängig spannend und düster, mit einem gelungenen Twist am Ende. Was mich irritiert hat, ist die Angabe, dass der Protagonist 19 Jahre alt ist, obwohl er sich in der Geschichte wie ein kleiner Junge verhält und von anderen auch so behandelt wird.

Die letzte Fähre von Moritz Döring fährt ebenso mit einer wundervoll düsteren Stimmung auf; hier gerät eine Fähre auf der letzten Überfahrt eines alten Kapitäns in einen grausamen Sturm. Das Ende ähnelt dem der vorherigen Geschichte allerdings zu sehr und hätte bei einer anderen Sortierung der Texte einen größeren Effekt gehabt.

Medusa von Jan-Christoph Prüfer wartet mit stark gezeichneten Figuren auf einer Ölplattform auf, vor der etwas Unheimliches im Wasser treibt. Der raue Umgangston unter dem Personal kombiniert mit dem Horror des Übernatürlichen zeichnen ein gelungen düsteres Bild der Szenerie, und auch das Ende fand ich sehr faszinierend beschrieben – allerdings ergibt es keinen Sinn. Oder ich habe es nicht verstanden. Jedenfalls wird am Ende ein so harter Schnitt gesetzt und die Figuren befinden sich plötzlich in einer gänzlich anderen Situation als vorher, dass ich ratlos zurückbleibe, weil ich mir keine Erklärung dafür denken kann. Außerdem erscheint mir die Einstiegs-Szene zu lang, denn mit den späteren Geschehnissen hat sie nichts mehr zu tun.

Die düstere Stimmung der Anthologie wird aufgelockert durch Strandhafer. Dünen. Badeenten. von Regine D. Ritter: Der Text besteht aus einer Reihe von zunächst harmlos wirkenden Blogeinträgen eines Studenten, der für Vogelzählungen einige Monate auf einer verlassenen Insel verbringt und dort auf ein Phänomen stößt, das zunächst witzig erscheint, im Laufe der Geschichte jedoch eine ganz eigene, bizarre Bedrohlichkeit annimmt. Fand ich originell! (Auch wenn die Bedrohlichkeit des Phänomens ein wenig an den Haaren herbeigezogen scheint.) Außerdem habe ich durch diesen Text gelernt, was „Friendly Floatees“ sind – diesen Fakt werde ich so schnell nicht mehr vergessen.

Cabo de Gata von Faye Hell versucht, mich mit einer poetisch ausgefeilten Sprache mitzureißen, die allerdings nicht recht zu den Figuren passen will. Am Ende habe ich das Gefühl, dass mir wichtige Details aus dem Leben und der Vergangenheit der Protagonistin fehlen, um ihr Denken und Handeln nachvollziehen zu können. Die ganze Sache wirkt irgendwie unrund und schmälert dadurch leider den – doch sehr atmosphärischen – Grusel des Katzenkaps.

Das Mysterium der See von Thomas Lohwasser und Vanessa Kaiser fand ich ganz spannend aufgebaut (auch wenn der Titel bezogen auf den Titel der gesamten Anthologie selten einfallslos ist): Ein Journalist unterhält sich an der Nordsee für einen Artikel mit ein paar Einheimischen, darunter auch einem alten Mann, der im Laufe der Geschichte zu einer ständig präsenten Bedrohung wird. Es ist spannend, gemeinsam mit dem Protagonisten dem Geheimnis den Alten auf den Grund gehen zu wollen, wobei seine metapherntriefende Weisheit mir zu klischeehaft ist. Die apokalyptische Stimmung am Ende fand ich wiederum sehr gelungen, auch wenn es mir sehr willkürlich erscheint, dass auf einmal ganz plötzlich die Welt untergeht.

Key Hot, meine Damen! von Thomas Karg erzählt von einem Macho-Typen, der mit drei Frauen auf eine Party-Insel fahren will, dabei aber vom Weg abkommt und in seinen schlimmsten Albtraum schlittert. Das ist jetzt ein persönliches Geschmacksurteil, aber ich bin bereits bis an mein Lebensende gesättigt von Geschichten über Alphamännchen, die alle Frauen für strohdumm halten und sie nur als Sexobjekte betrachten. Stilistisch schafft der Autor es da nicht einmal, konsequent zu sein: Beispielsweise verwendet er das gehobene Wort „obgleich“ in einem Satz mit einem „knallengen Dress“. Die dumme, vollbusige Frau ist jedoch nicht das einzige Klischee in dieser Geschichte – natürlich ist die Horror-Insel auch bevölkert von „Affenwesen“ (S. 303) oder auch „Degenerierten“ (S. 304), die in den Augen des Protagonisten „eine Perversion der Natur“ (S. 303) sind und die kleine Reisegruppe brutal für ein religiöses Opferritual töten. Ein bisschen weniger rassistische Stereotype hätten es auch getan. Der Plot Twist am Ende macht es nur minimal besser.


Normalerweise verschlinge ich Anthologien regelrecht. Für diese hier habe ich fast zwei Monate gebraucht. Ich wollte sie aber auch nicht abbrechen, weil die Zusammenstellung schon ziemlich abwechslungsreich war und ich keine Perle übersehen wollte. Leider habe ich in diesem Buch keine gefunden.

2/5 gruseligen Meeresweesen

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