Kurzmeinung: Eine starke Anthologie mit gelungenen düsteren Texten.
Während der Hitzewelle schien mir diese Anthologie mit ihren winterlichen Kurzgeschichten eine gute Abkühlung zu sein. Und ich war (und bin noch immer) begeistert von den sprachlich wunderschönen, cleveren und verblüffenden Texten rund um Wölfe, Kälte und Hunger. Das klingt erst einmal nach einer engen thematischen Einschränkung, aber die Autor*innen machen daraus so viele unterschiedliche Dinge, dass mir das Lesen ein Fest war. Noch dazu sind die Geschichten liebevoll mit kleinen Bildern illustriert, die die Essenz der jeweiligen Texte wundervoll und oft auch doppeldeutig einfangen.
Schon die erste Geschichte, Immenwolf von Marie Meier, ist richtig stark: Sie beginnt mit einer bedrohlichen Atmosphäre und einem unheimlichen Wolf, der am Waldrand auf den Protagonisten und die bisher so harmonische Dorfgemeinschaft lauert. Doch nach und nach gibt sich der Wolf als reine Metapher zu erkennen, die langsam zerbröselt und etwas ganz anderes zum Vorschein bringt – und die Dorfgemeinschaft schonungslos als rückständig und queerfeindlich enthüllt. Das finde ich unglaublich gut erzählt und sehr geschickt eingefädelt.
Witiko von Ariadne Geiling ist eine surreale Geschichte, in der die Grenzen zwischen Realität und Halluzination, aber auch zwischen Mensch und Wolf verwischen. Ich mag diese blutige Abgründigkeit inmitten der Winterwald-Stille, und der quälende Hunger ist geradezu spürbar.
Der Whisky von Nicole Hobusch ist augenscheinlich eine Geschichte über eine Frau, die jemandem vom tragischen und plötzlichen Tod ihres Mannes erzählt. Das Ganze hat jedoch einen cleveren und witzigen wölfischen Twist, den ich sehr mochte.
Homo homini lupus von C. F. Srebalus hat mich sprachlich sehr beeindruckt: In wundervollen Worten wird von der Kälte und dem Hunger zwischen einem schattenbehafteten Ruinen-Labyrinth erzählt, vom bitteren Kampf ums Überleben und von der Suche nach einem ganz bestimmten Licht. Sehr apokalyptische Vibes, ich konnte die verfallene Stadt geradezu bildlich vor mir sehen.
Der heilige Mahahimal von Mika M. Krüger wirkt im Vergleich zu den vorherigen sehr starken Texten leider etwas platt erzählt. Ich mag allerdings die Ausarbeitung der sozialen Dynamiken: Einheimische Bergsteiger*innen riskieren unter widrigsten Winter-Bedingungen ihr Leben, um die »Tiefländer« zum Gipfel zu führen, was an die realen Berichte über die Sherpa im Himalaya erinnert.
Kleiner böser Wolf von Pêcheuse erzählt von einem Jungen, der auch als Erwachsener für die grausamen Taten seiner Familie büßen muss, mit denen er gar nichts zu tun hat. Ich mag es, wie eindringlich hier über Schuld, Religion und toxische Charakterdynamiken geschrieben wird.
Den starken Abschluss bildet Mimikri von T. N. Weiß, eine Multimedia-Science Fiction-Geschichte, in der die Protagonistin während einer Forschungsreise verunglückt und von einem Rudel wilder Tiere, den Wolfsziegen, aufgenommen wird. Das Worldbuilding gefällt mir richtig gut, ebenso die bittersüßen Momente und die Art, wie mit dem Erzählmedium gespielt wird: Die Protagonistin dokumentiert ihre Reise, indem sie auf ihrem Tablet Tagebucheinträge tippt, und an einer Stelle wird mit bewusst eingesetzten Tippfehlern und Kleinschreibung eine rohe, ehrliche Seite von ihr freigelegt. Auch schön finde ich, wie sie sich erst in einer lebensgefährlichen Situation darüber bewusst wird, was ihr eigentlich im Leben am wichtigsten ist.
Ich habe diese Anthologie als E-Book gelesen, aber jetzt möchte ich sie mir auch als Print kaufen, um sie mir ins Regal zu stellen und immer wieder zu lesen. Richtig toll!